Der Koala würde sich gerne freuen, aber so recht begeistert ist er nicht.
Einem geschenkten Gaul schaut man
nicht ins Maul, heißt es so schön. Dieses Buch bekam ich vom Verfasser
geschenkt, und doch will ich jetzt diesem Gaul ins Maul schauen – keine Sorge,
eine bloße Gefälligkeitsrezension als Gegenleistung für das Buchgeschenk wird
es wohl nicht werden.
Das Buch „Humanitäre Hilfe für
Deutschland nach den beiden Weltkriegen“ ist schon 2009 erschienen. Ich
muss um Entschuldigung bitten, dass ich erst jetzt die Zeit fand, es zu besprechen.
Da ich keine Bücher rezensiere, die ich nicht vollständig gelesen habe, komme
ich leider nur noch sehr selten zu Buchbesprechungen. Fünf Abende für das Lesen
und einen zusätzlichen Abend für das Recherchieren und Schreiben habe ich dafür
investiert.
Zunächst und an erster Stelle meinen
Glückwunsch und Dank an den Verfasser Günter Heuzeroth, dass dieses Buch fertig
wurde – keine Selbstverständlichkeit in unserer Zeit.
Ich kenne die Hindernisse
gut, bis man so ein Projekt abgeschlossen hat: die investierten Stunden/Jahre,
die Zweifel, die Schwierigkeit, einen Verlag zu finden, die demotivierenden
Sprüche (älterer) Quäker: „Lass das doch die DJV machen...“; „Das interessiert
doch niemanden“; „Bitte nenne bloß keine Namen...“ – Heuzeroth hat sein Projekt
dennoch umgesetzt, und solche „Ratschläge“ zum Glück ignoriert.
Vielleicht sind an dieser Stelle
einige Worte zum Verfasser angebracht: Günter Heuzeroth, geboren 1934,
arbeitete als Religionspädagoge, Heilpädagoge und Drogentherapeut. Gleichzeitig
hat er sich intensiv mit Geschichte beschäftigt und eine mehrbändige Buchreihe
zum Nationalsozialismus im Bezirk Weser-Ems verfasst. Hier schreibt also
jemand, der historisches und sozialpädagogisches Interesse und Expertise verbindet
– eine Kombination, die mir sehr sympathisch ist und die eine gute Voraussetzung
bietet, sich mit einem historischen Quäkerthema zu beschäftigen.
Sein Buch wurde von der „Gertrud
und Hellmut Barthel-Stiftung“, vom Bezirksverband Oldenburg und von der
OLB-Stifung der Oldenburgischen Landesbank unterstützt. Und wie viel, fragt man
sich, hat die DJV gestiftet? Keinen müden Euro. Während Kanufahrten und
jährlich Delegierungen in die ganze Welt üppig bezuschusst werden, war man
nicht bereit, Heuzeroths Buch auch nur mit einer kleinen Summe symbolisch zu
unterstützen. Es ist eine Schande, und wenn die Quäker in Deutschland tatsächlich
ein drittes Mal (nach 1740 und 1892) eingehen, dann doch auch an mangelnder
Bereitschaft, öffentlich präsent sein zu wollen. Warum das Buch, in dem es doch
dezidiert um deutsche Quäker geht, auf der Homepage der DJV nicht angeboten wird,
in der Zeitschrift „Quäker“ nicht besprochen wurde und in der Berliner
Quäkerbibliothek noch nicht einmal angeschafft wurde, kann ich mir überhaupt
nicht erklären, ich bin auch nicht verantwortlich dafür.
Wo man überhaupt das Buch erwerben
kann oder soll, ist mir leider schleierhaft: kein von mir konsultierter
Onlinedienst (Amazon, Bookbrooker, Abebooks) hat das Buch gelistet, und auch
bei Dussmann (einem großen Berliner Medienhaus) war mein (hartnäckiges) Nachfragen
erfolglos. Hier ist also wieder einmal ein Quäkerbuch geschrieben worden, dass
gar nicht oder nicht mehr erhältlich ist. Ich schreibe also eine
Antiquariats-Rezension, was mir leider erst am Ende aufgefallen ist. Hätte ich
es gleich bemerkt, dass dieses Buch schlicht inexistent ist, hätte ich mir die
Mühe nicht gemacht.
Aber – was haben wir denn jetzt eigentlich
vor uns?? Es geht, wenn man dem Titel Glauben schenkt, um „Humanitäre Hilfe für
Deutschland nach den beiden Weltkriegen“. Das stimmt aber nicht ganz, denn es
geht in dem Buch auch um Belgien, Holland, Österreich, Polen und Russland – man
müsste also von „humanitärer Hilfe für Europa“ sprechen – vermutlich hat einer
der Geldgeber aus irgendwelchen Förderrichtlinien diesen irreführenden Titel
durchgesetzt. Es beginnt auch nicht in Deutschland, sondern in den USA: Hoover
und seine Mitarbeiter werden vorgestellt, die ersten Hilfsbestrebungen, die Frage um
die Versöhnung mit dem ehemaligen Feind. Schon bei diesem ersten Kapitel fällt
ein Problem auf, welches sich durch das gesamte restliche Werk zieht: Der ganze
wissenschaftliche Apparat ist eine Katastrophe. Wo ist das
Literaturverzeichnis? Wo ist das Abbildungsverzeichnis? Es werden Titel genannt, die nirgendwo angeführt sind (nur ein Beispiel: auf S. 20 wird ein
oder eine „Adlgasser“ zitiert, auf S. 21 ein oder eine „Lochner“ usw. – doch
wer das alles sein soll, erfährt man nirgends. Dr. Petra Schönemann-Behrend,
die dieses Buch übrigens exzellent lektoriert hat (ich fand nicht einen Tippfehler)
hätte dies eigentlich auffallen müssen. Vielleicht ist das Literaturverzeichnis
eingespart worden, um den Druck unter 200 Seiten zu bringen?
Es scheint mir, also ob der Autor
mit dem Buch vor vierzig Jahren angefangen hat und seitdem die Neuerscheinungen
einfach nicht mehr beachtet hat. Das kann durchaus sein. Aber auch das Internet
gibt es bereits seit zehn Jahren, und da hätte man doch von den
Neuerscheinungen (eigentlich sind es ja auch schon wieder Alterscheinungen) erfahren
müssen: Jack Sutters zwei Bände der Serie „Archives of the Holocaust“ von 1990
(DAS Standartwerk zu jeglicher Quäkerforschung über die NS-Zeit): Fehlanzeige. James
Irvin Lichtis neueste Monographie „Houses on the sand? Pacifist denominations
in Nazi Germany“ (2008): Fehlanzeige. Achim von Borries’s „Quiet helpers. Quaker
service in postwar Germany“ (2000): Fehlanzeige. Robert McCoys „Planting the
good seed. Letters from a Quaker relief worker“ (2007): Fehlanzeige. Hunderte
Fachaufsätze englischer, amerikanischer, holländischer, deutscher Autoren – Heuzeroth
kennt keinen einzigen. Man muss und kann vielleicht auch nicht alle lesen –
aber sich ausschließlich auf ganz wenige, völlig veraltete Arbeiten zu berufen
ist eine Merkwürdigkeit, die ich einfach nicht verstehe, zumal der Autor ja den
Fleiß hat, ein ganzes Buch zu verfassen. Wer aber ein Fachbuch schreiben möchte
und derart die Meinungen anderer Autoren ignoriert, ja verachtet, der darf sich
über Beschwerden nicht wundern.
Das nächste Kapitel „Die
Entstehung des Quäkertums“ basiert einzig und allein auf Heinrich Ottos „Wesen
und Werden des Quäkertums und seine Entwicklung in Deutschland“ von 1970 – die
gesamte, reichhaltige angloamerikanische Literatur wurde ignoriert. Ich bin
nicht bereit, die Fehler, die sich hier eingeschlichen haben, hier fleißig zu
korrigieren – ein paar Blicke in neuere Arbeiten hätten hier gut getan. Wir
gehen weiter zu dem Kapitel „Humanitäre Hilfe für Deutschland“. Auch dieses
Kapitel ist seitenweise abgeschrieben, diesmal von Ruth Frys Lebenserinnerung
„Ein Quäker-Wagnis“ von 1933 – eine Arbeit, die man aus verschiedenen Gründen
heute nicht einfach als „Forschungsliteratur“ ausgeben darf. Erst peu à peu, ab Seite 52, kommen auch neue
Quellen zu Wort, und da wird es dann auch interessant. So hat Heuzeroth
herausgefunden, dass die Quäker umfangreich von der Deutschen Regierung
unterstützt wurden (S. 53), was in den Eigendarstellungen der Quäker meist
nicht erwähnt wird. Schwerpunkt der humanitären Tätigkeit ist hier einmal nicht
Berlin oder Wien, sondern – Oldenburg. Warum gerade Oldenburg, wird nicht
begründet, vermutlich deswegen, weil der Verfasser heute dort wohnt. Die Teile
zu Oldenburg sind das Glanzstück des Buches, und hier trägt der Verfasser doch
wirklich Neues und Interessantes bei; ganz im Gegensatz zum Teil „Die Quäker in
der NS-Diktatur“ – erneut wird hier so gut wie nur Ottos Buch zitiert, die
Seite 75 beispielsweise besteht fast nur als Otto-Zitaten – nun, da kann man
gleich das Original lesen. Auch wurde bei diesem komplizierten Abschnitt
Quäkertum und Nationalsozialismus die gesamte Fachliteratur der letzten fünfzig
Jahre vollständig ignoriert, sogar Hans Schmitts „Quakers and Nazis“ (1997) scheint
Heuzeroth nicht einmal bekannt zu sein. Dabei werden die Otto-Passagen noch
nicht einmal kommentiert oder kritisch hinterfragt - es kommt daher zu
überholten Aussagen wie: „Gerhard Halle wird schon im Jahr 1933 als Beamter
entlassen, weil er bei einer Veranstaltung, wie es heißt, ‚pazifistische
Tendenzen’ geäußert haben soll“ (S. 77). Warum Konjunktiv? Neuere Publikationen
belegen, dass er das nicht „geäußert haben soll“, sondern es ist eindeutig belegt.
Kommen wir zur „Stunde Null in
Oldenburg“, einem Kapitel, in dem die Ausgangslage nach 1945 geschildert wird –
diesmal so gut wie ausschließlich nur an einem kleinen, aber durchaus
wertvollen Büchlein von Magda Kelber (S. 115-116 bestehen nur aus
Kelber-Zitaten, die nicht einmal interpretiert oder kontextualisiert wurden). Die
Quäker haben die Not auf vielfältige Art und Weise gelindert, nicht nur durch
die berühmte, sprichwörtlich gewordene „Quäkersuppe“ – sondern auch durch
Ofenaktionen (S. 124) und sogar mit Möbeltransporten (S. 125). Immer, wenn der
Verfasser aus dem Oldenburger Archiv zitiert, ist man ganz direkt am Geschehen,
als würde man die Zeit miterleben. Zahlreiche Einzelheiten werden ausgebreitet,
von denen andere Wissenschaftler noch profitieren werden. So ist mir völlig
neu, dass es damals wohl eine spezielle Quäker-Sitte war, bei Feierlichkeiten einen
Teller mit Weißbrot, Salz und Schmalz zu reichen (S. 165). Und man bekommt auch
seltene Fotos präsentiert, wie vom Quäker-Advents-Lichterteppich (S. 185). Diese
Passagen sind auch sprachlich exzellent geschrieben, egal, wo man einsteigt,
wird man von dem Text mitgerissen. Das ist erfreulich, vor allem, wenn ich an
die zahlreichen engagierten Dissertationen und anderen Fachpublikationen zu den
Quäkern denke, die oftmals mühselig erarbeitet wurden, aber sprachlich eine
Katastrophe sind.
Bei der Aufarbeitung der
Oldenburger Quäkergeschichte scheint Heuzeroth auch mit Zeitzeugen gesprochen
zu haben, v.a. mit Frank Farnell, Geoffrey Wareing, Werner Zeuch und Walter
Linnemann. Diese Zeitzeugenberichte sind das Wertvollste an dem Buch, denn man
kommt man an Erinnerungen, die ansonsten verloren gegangen wären. Ich kann hier
nicht auf die einzelnen Protokolle inhaltlich eingehen, nur feststellen, dass
wir hier lebendige und authentische Erfahrungsberichte haben, die erschöpfend
noch lange nicht ausgewertet sind. Wann die Interviews geführt wurden (1950?
1970? oder 2009?) hat sich mir nicht so recht erschlossen, ebenso, welche
Methode hier angewandt wurde (vorstrukturiert, frei oder problemzentriert?).
Der Schluss des Buches hat mit
dem Thema dann nichts mehr zu tun; es geht auf einmal um die „Oldenburger
Quäkerfreunde von 1946 bis 1975. Sehr, sehr selten hat man das Glück, einmal
etwas über das Leben einer kleinen Gruppe zu erfahren, über die Teilnehmer, die
Beziehungen zur Jahresversammlung, den Neuanfang unter Klaus auf der Heyde und
Anna Snoek.
Das Buch „Humanitäre Hilfe für
Deutschland nach den beiden Weltkriegen“ ist also in erster Linie für
Oldenburger ein Gewinn. Bezogen auf Deutschland wird nichts Neues präsentiert;
die große Arbeit zur Quäkerspeisung bzw. zu den Quäkerhilfsdiensten steht also immer
noch aus. Allein im Archiv von AFSC und im Bundesarchiv warten mehrere Meter
allein an Statistiken, Fotos, ärztlichen Berichten, Kochrezepten etc. zu diesem
gewaltigen Unternehmen, das ja Millionen Menschenleben rettete. Erst nach einer
solchen Studie wird sich dann zeigen, ob regionale Hilfsdienste, wie etwa in
Oldenburg, typisch oder Ausnahme waren.