20111230

Hardcore-Forschung aus dem deutschen Hinterland - ein Erfahrungs- und Leidensbericht

Über Quäkerforschung kursieren mitunter die merkwürdigsten Vorstellungen. So mancher bildet sich ein, man würde immer hinter dem PC sitzen und dabei eine Menge Geld verdienen. Beides ist ein krasser Irrtum – Quäkerforschung ist mitunter extrem anstrengend, und anstatt etwas dabei zu verdienen, zahlt man obendrauf. Eine Unsumme habe ich in den letzten zwanzig Jahren bestimmt in Buchprojekte, Forschungsreisen, Bildrechte etc. investiert – an die Arbeitsstunden darf man dabei gar nicht denken. Einfach unbezahlbar. Aber ich gebe zu: es macht auch einen Riesenspass und ich lerne Menschen dabei kennen, denen ich ansonsten nie begegnet wäre.

Ein Höhepunkt der Tiefpunkte war meine Reise zum Quäkerfriedhof Hille im vergangenen Jahr 2011.
Ich muss zugeben, dass mich die Friedhöfe der Quäker wenig interessieren und ich die Erforschung dieser düsteren Orte jahrelang hinausgeschoben habe. Jetzt aber wurde es ernst und ich wollte doch einmal den ehemaligen Quäkerfriedhof in Hille besuchen, einer kleinen Gemeinde hinter Minden. Mein erster Versuch scheiterte im Januar 2011 an den extremen Wetterbedingungen. Der ICE saß zunächst in Berlin-Spandau vereist fest und kämpfte sich dann mit einer sechsstündigen Verspätung durch den Schnee nach Minden. An eine Weiterfahrt nach Hille war nicht mehr zu denken, aber immerhin gelang es noch, die Familie Rasche zu besuchen, deren Vorfahren ja Quäker waren und die noch immer wichtige Dokumente zur Gemeindegeschichte besitzen. Im Sommer unternahm ich einen zweiten Versuch. Diesmal scheiterte ich an mir selbst. Ich wusste bislang gar nicht, dass frühmorgens von Berlin aus nach Minden zwei Züge zur gleichen Zeit abfuhren – und leider hatte ich den falschen genommen. Da ich meist in Zügen gut schlafen kann, stellte ich meinen Wecker und wachte erst kurz vor Kassel-Wilhelmshöhe wieder auf: ich hatte die Zeit für den anderen Zug gestellt und Minden verpasst.

Doch unmittelbar vor Weihnachten sollte es doch noch gelingen. Wie oft im Leben: Hartnäckigkeit führt zum Ziel. Ich war diesmal optimal vorbereitet und hatte alle in Frage kommenden Fahrpläne ausgedruckt. In Minden kam ich schon um 12 Uhr an und nun ging es mit dem Bus weiter. Ich musste aber feststellen, dass ich die Ausdrucke vor dem winterlichen Fahrplanwechsel vorgenommen hatte. Das bedeutete erst einmal zu warten. Wer den Bahnhof von Minden kennt, weiß, was für ein Vergnügen das ist. Über drei Busse kam ich aber doch gut in Hille-Ortsmitte an, wo die zentrale Station „Hille-Apotheke“ heißt. Wie viele Geschäfte auf dem Land war um die Mittagszeit die Apotheke geschlossen und ich musste mich zu der Stelle, an der ich den Friedhof vermutete, durchfragen. Dabei fiel mir wieder einmal auf, wie schlecht auch Landmenschen ihre Heimat kennen: „Nie gehört“, „bin seit kurzem Zugezogen“ oder „das gibt es hier nicht“ bekommt man da zu hören. Inzwischen war der Nieselregen stärker geworden und Kälte zog sich langsam in meine alten Knochen – Friedhofsstimmung eben. Selbstredend gibt es in Hille keinen Bäcker oder Späti, wo man sich eben mal hätte aufwärmen können. Jedenfalls habe ich keinen gefunden. Nur Dank google-maps fand ich dann doch an einer Ausfallstraße nach Rahden den gesuchten Platz.

Um mich herum waren nur alte Hofanlagen, von Gräbern keine Spur. Um mir sicher zu gehen, bin ich erst einmal das ganze Areal abgelaufen. Das gibt es doch gar nicht: 1998 hatte mein Kollege Hartmut Horstmann noch einen klugen Artikel geschrieben, der „Zwei Torpfosten sind noch geblieben“ hieß und in dem es um die Reste des Friedhofs ging. Irgendwo mussten die Pfosten doch sein! Jetzt half nur noch die direkte Kontaktaufnahme mit der alteingesessenen Bevölkerung. Der Ostwestfale soll ja etwas verschlossen sein. Nachdem ich meinen ganzen Mut zusammengenommen hatte, klingelte ich am ersten Hof, den ich zuvor zwei Mal umschlichen hatte. Eine Frau öffnete und war völlig entsetzt, dass ihr Hof auf einem Friedhof liegen sollte. Erst nachdem ich sie beruhigen konnte, verstand sie, dass sich die Gräber irgendwo in der Nähe, aber sicher nicht unter ihrem Schlafzimmer befinden. Helfen konnte sie aber erst einmal nicht – obwohl ein Negativfund ja auch immer ein Fund ist. Beim nächsten Hof hatte ich auch kein Glück:  der Bauer lud mich nach drinnen ein, wohl aus Miltleid, und wurde recht gesprächig. Bei Kaffee wärmte ich wieder auf und hörte aus Höflichkeit eine knappe Stunde Geschichten und Geschichtchen aus der lieben Nachbarschaft. Quäkerfriedhof? Fehlanzeige auch hier. Erst beim dritten Hof hatte ich mehr Glück. Erst öffnete eine jüngere Frau, deren Kinder im ersten Stock tatsächlich „Friedhof, geil ej“ riefen. In Hille scheint eben wenig los zu sein, „tote Hose“, sozusagen. Die freundliche Frau konnte dann eine weitere noch freundlichere Bewohnerin herbeirufen, die von diesem Friedhof gehört hatte. Kaum zu glauben, ich war am Ziel. Die Stelle war gleich in der Nähe. Man musste jedoch noch über einen Acker laufen, den der Regen der letzten Tage aufgeschwämmt hatte. Schließlich konnte ich mich durch den Modder und die Pfützen durchkämpfen und diese Aufnahme machen:


Ja, richtig, die Pfosten sind nicht mehr da. Wie ich später erfahren habe, hat sie der Bauer um das Jahr 2000 vom Feld genommen. Sie befanden sich ungefähr an den Stellen, die ich in dem Foto rot markiert habe. Über die Jahre kamen die Pfosten wohl aus der Verankerung und wanderten durch den Acker, so dass sie schließlich die Feldarbeit behinderten. Die Quäker seinerzeit betraten den Friedhof nicht von der Seite des Ackers, sondern von den Höfen aus, die man im Bildhintergrund erkennt. Es war das Grundstück des Kolon Friedrich Fehrmann (Hausnumme 102) einem eifrigen Quäker. Christian Fehrmann (1795-1845) war der letzte, der hier 1845 bestattet wurde.

Heute erinnert also absolut nichts mehr an den ehemaligen Friedhof. Grabsteine hat es vermutlich nie gegeben, sie waren zu teuer und widersprachen auch dem Gebot der Einfachheit. Ich machte mich durch den Modder wieder zurück zur Bushaltestelle. Dort hatte ich noch eine Stunde Zeit, bei Wind und Wetter über den Friedhof (und anderes) nachzudenken.