20111126

Kunst, Religion und Quäkertum


Quäker und Kunst – geht das überhaupt? Viele Jahre, ja Jahrhunderte, war Quäkertum und Kunst ein Widerspruch. Das Thema war und ist mit vielerlei Urteilen, Vorurteilen und emotionalen Vorbehalten bedacht. Fragt man jedoch heutige europäische Quäker nach ihrer Einstellung zur Kunst, erhält man durchweg positive Antworten. Die Augen leuchten, die Kunstbegeisterung nimmt den Quäker gefangen. Ausstellungen werden besucht, teuere Kunstbände ins Bücherregal gestellt, oder man wird gleich selbst zum Künstler. Es ist eine erstaunliche Bandbreite von kreativen Fähigkeiten vorzufinden: viele spielen und unterrichten Musikinstrumente, es werden Haushaltsware und Kunstgegenstände getöpfert, Kunstkurse an Volkshochschulen besucht oder sogar geleitet, und außerdem wird viel geschrieben, von Gedichten über Kinderbücher bis zu Krimis und Romanen. Fast jeder Quäker hat „seine“ kreative Beschäftigung; Kunst möchte fast niemand missen. Doch: Ist es nun tatsächlich so, dass durch oder gar in der Kunst eine göttliche Offenbarung erlebt wird?
(Überarbeitete Fassung von: Quäker und Kunst, in: Quäker. Zeitschrift der deutschen Freunde, LXXVIII, 5, 2004, 291-297 und LXXVIII, 6, 2004, 361-363).
Entspricht dies realen Erfahrung oder wird so geredet, weil es so erwartet wird? Werden die deutschen Quäker in ihren Andachten bald singen und musizieren, so wie es weltweit ohnehin längst die meisten Quäker tun? Oder wird man sich wieder grau kleiden, Rockkonzerte tunlichst meiden und Radio wie Fernsehen bei der GEZ abmelden? Oder sollen die Quäker den berühmten Mittelweg finden, also das machen, was die breite Mehrheit ohnehin macht, ohne aufzufallen oder anzuecken?
Diese Fragen kann nur jeder für sich selbst beantworten, sie hängen von vielen Einflüssen wie Erziehung, Lebensführung, Talent und anderem ab. Sie hängt jedoch auch von der Kenntnis der Vergangenheit der Quäkersozietät ab, die bezüglich der Kunst immer wieder zu erstaunlichen Wandlungen geführt hat und die es wert sind, sie etwas näher kennen zu lernen.

Die Bibel: Ein Kunstwerk ohne Kunst?
Ohne einen Blick in die Bibel bleiben viele Äußerungen und Handlungen der ersten Quäker recht unverständlich oder gar missverständlich. Daher soll zunächst die Bedeutung des Begriffes „Kunst“ in der Bibel geklärt werden, bevor wir uns dem eigentlichen Thema zuwenden. Im Alten Testament wird Kunst nüchtern als eine handwerkliche Fertigkeit verstanden. Zu den Künstlern werden Handwerker wie Schmiede, Töpfer, Kupfertreiber und andere gezählt, die in irgendeiner Weise Material verarbeiten oder veredeln. Der moderne Kunstbegriff - Kunst als „einzige Tätigkeitsform, durch die der Mensch als Mensch sich als wahres Individuum manifestieren kann“ (Marcel Duchamp, 1887-1968) - ist gänzlich unbekannt, die Medien, mit denen heute Kunst in Verbindung gebracht werden (z.B. Ölmalerei, Photographie, Stukkaturen) waren noch nicht einmal erfunden oder ließen sich in einer Nomadenkultur nicht ausüben, wie etwa Steinmetzarbeiten oder das Modellieren von Skulpturen. Der Handwerker als Person war unwichtig, er wurde zumeist nicht einmal genannt. Aus der Menge der beteiligten Künstler am Bau der Stiftshütte, dem ersten religiösen Kultbau, kennen wir nur einen Menschen mit Namen „Oholiab“, der zugleich Schmied, Schnitzer und Kunstweber gewesen war.
Allein beim Bau der Stiftshütte, dem Vorbild des späteren Salomonischen Tempels, kommt künstlerischer Tätigkeit eine hohe Bedeutung zu, doch wirkt der Künstler nicht durch eine geniale Konzeption oder durch intellektuelle Fähigkeiten, sondern seine Kunst kommt vom Herzen (2. Moses, XXXV, 35). Bis auf wenige unbedeutende Ausnahmen finden sich alle Stellen, die mit Kunst in Beziehung stehen, bei architektonischen Baubeschreibungen. Es handelte sich um eine Kunst, die vom Inneren des Menschen her kam und ausschließlich der Verherrlichung Gottes dienen sollte. Bemerkenswert ist, dass nicht die Herstellung von fertigen Waren, Werken oder Bauten im Vordergrund stand, sondern der Künstler Teile zu einem Ganzen zusammenfügte. Sein Beitrag ist nur aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen, der mit vielen anderen Schaffenden gemeinsam geleistet wurde. Kunst war nicht die Leistung eines Individuums, sondern fand im sozialen Austausch statt - dahinter steht der zentrale Gedanke des israelischen Volkes als fest verbundene Gemeinschaft, die nur kollektiv überleben konnte.
Ein zweiter Kunstbegriff des Alten Testament kennt Kunst im Zusammenhang mit Zauberkunst oder dem, was wir als „Kunststück“, etwa im Zirkus oder bei Theatervorführungen, bezeichnen. Es handelte sich hierbei um Fertigkeiten, die den Ausübenden offenbar zu Kopfe gestiegen waren oder denen zumindest eine gewisse Anmaßung innewohnte: „Ich bin der Herr, der alles schafft, der den Himmel ausbreitet allein und die Erde festmacht ohne Gehilfen, der die Zeichen der Wahrsager zunichte macht und die Weissager zu Narren, der die Weisen zurücktreibt und ihre Kunst zur Torheit macht (...)“; Jes. XLIV, 25 (vgl. Jer. X, 14). An dieser wie an anderer Stelle wird nicht Kunst an sich verworfen, sondern zunächst ist der Mensch offensichtlich Opfer seiner eigenen Hybris (Apotheose = Übersteigerung, Hochmut). Doch auch hier ist nicht der heutige Kunstbegriff angesprochen, es sind weniger die kreativen Möglichkeiten, sondern geistige bzw. magische Fertigkeiten, deren Grenze aufgezeigt werden soll.
Musikbegegnet uns im Alten Testament zunächst im Buche Daniel, Kapitel III, interessanterweise in Verbindung mit einem Bildnis. Sobald Musik erklang, mussten sich alle Untertanen vor das Kultbild des Herrschers Nebukadnezar werfen und es anbeten. Die Musik diente hier, ebenso wie die Posaunen von Jericho, als ein Signal zum Handeln - sie hatte keinen Wert an sich und diente nicht der Erbauung oder Entspannung. Im Verhältnis zu der Bedeutung, die Musik im Alltag, bei Festen und im Krieg tatsächlich gespielt hat, wird von ihr im Alten Testament wenig berichtet. Zwar gibt es die Psalmen; doch ob man sich eine instrumentale Begleitung vorstellen darf, ist strittig, und der Harfenspieler David benutzte sein Instrument hauptsächlich, um die Depressionen des Königs Saul zu vertreiben, nicht, um als Künstler vor Publikum aufzuspielen.
Im Neuen Testament findet sich zum Thema Kunst noch weniger. Allein schon die Vorstellung, Jesus habe ein Instrument gespielt, erscheint vielen Theologen undenkbar. Die einzige Stelle, in der Kunst beiläufig erwähnt wird, ist merkwürdig genug: „Da wir nun göttlichen Geschlechts sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht“ (Apostelgeschichte XVII, 29). Diese Worte soll Paulus zu antiken Philosophen und anderen Zuhörern in Athen gesprochen haben, als er den Monotheismus gegen die antiken Götter verteidigt, die für Paulus nichts anderes als Götzen darstellten. Zu Götzen konnte alles werden, vornehmlich, was schön, anregend und eben kunstvoll gestaltet war. Es wird davor gewarnt, göttliche Herkunft nicht mit den Dingen selbst zu verwechseln. Diese Stelle verweist auf den Unterschied von Schöpfer und Geschaffenem. Daraus kann man jedoch nicht ableiten, die Beschäftigung mit solchen Kunstgegenständen sei aufzugeben, denn wir sollen uns lediglich nicht einbilden, dass in den leblosen Gegenständen vorhanden sei, was göttlicher Natur ist. Dennoch ist die Aussage noch komplizierter, als es zunächst scheint: Es wird davon gesprochen, dass menschliche Kunst und Gedanken diese Bilder macht, was ist also gemeint? Bilder, die durch Gedanken gemacht sind - also „Gedankenbilder“? Oder geht es ganz allgemein um die Begrenztheit menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Wissens, was bereits das berühmte Höhlengleichnis des Plato zu vermitteln versuchte?
Insgesamt finden wir also im Alten Testament, im Neuen Testament und den Apokryphen nur Weniges zur Kunst, erst recht keine ausgefeilte Kunsttheorie. Bevor wir jetzt einen Blick auf die heutige Beziehung der Quäker zur Kunst werfen, soll etwas über die Kunsteinstellung der vorangegangenen Quäkergenerationen berichtet werden. Wie in vielen anderen Bereichen hat sich das Quäkertum auch hier in wesentlichen Punkten gewandelt. Dass dies nicht ohne Konflikte von statten ging, ist das Kennzeichen einer dynamischen Bewegung, die das Quäkertum von anderen kirchlichen Religionsgemeinschaften unterscheidet. Was die Quäker über Generationen hinweg, zum Teil trotz konträrer Ansichten, miteinander verbindet, ist die Ernsthaftigkeit und die quäkereigenen Methoden des Suchens, mit denen auch immer wieder die Einstellung zu Kunst neu überprüft wurde.

Woher stammt die Kunstfeindschaft der frühen Freunde?
Wie andere puritanisch beeinflusste Bewegungen (Ranters, Fifth-Monarchy-Men, Baptisten, Seekers, u.v.a.) waren die Quäker in Sorge, kostbare Zeit durch Ablenkungen, wie sie Musik, Schauspiel u.ä. boten, zu verlieren. Dies betraf sowohl die aktive Ausübung von Kunst als auch die passive Konsumption als Zuhörer oder Zuschauer als „Kunstgenuss“, und es wurde eifrig darum gestritten, was eigentlich verwerflicher wäre. Die Zeit sollte besser dazu verwendet werden, so oft und so lange wie nur möglich die Bibel zu lesen und nach ihr zu leben. Galt es doch, eine wichtige Mission zu erfüllen: Heaven on Earth, also die Vision eines irdischen Friedensreiches, sollte hergestellt werden, und zu dieser Aufgabe fühlten sich die Quäker berufen. Hinzu kam die Ablehnung eines Lebensstils, der nicht den gängigen Normen der zeitgenössischen Lebensführung entsprach. Dies waren Künstler, Theaterleute und Gaukler, die aufgrund ökonomischer Bedingungen, aber auch aus dem Bestreben, den eigenen Horizont zu erweitern, gezwungen waren, den Wohnort häufig zu wechseln oder ganz auf einen festen Wohnsitz zu verzichten, zu unregelmäßigen Zeiten zu arbeiten und mit einem unregelmäßigen Einkommen auszukommen. Dies war jedoch zweitrangig. Entscheidend war die Furcht vor einer Berufsausübung, die auf Imagination und Täuschung setzte, die ein Spiel mit der Wahrheit trieb, das in seiner Zweideutigkeit abgelehnt wurde. Hinter dem durch Kunst hervorgerufenen Schein glaubten die Quäker eine potentielle Lüge zu erblicken, und die Lüge war das Werk Satans, von dessen Existenz die überwiegende Mehrheit der Quäker felsenfest überzeugt war.
Besonders die Musik, die im Verdacht der Verführung oder gar der Zauberei stehen konnte, wurde von den ersten Quäkern mit Verachtung und Ablehnung bedacht. Instrumente oder Notenbücher wurden verbrannt und vergraben, damit sie keinen Schaden mehr anrichten konnten (1). Etwas bekannter ist der Fall eines Solomon Eccles, der zu den radikalsten Quäker aller Zeiten zählt. Von Beruf war er Musiker, er spielte begnadet Violine und Spinett. Um sich bei den Quäkern zu bewähren und seine Zugehörigkeit zu dokumentieren, gab er seinen Beruf auf und verbrannte öffentlich seine Instrumente samt Kompositionsskizzen auf dem Tower Hill zu London. Weitere Instrumente, die er selbst angefertigt und verkauft hatte, versuchte er von seinen Kunden zurückzukaufen. Er war der Meinung, dass sowohl das Seelenheil des Käufers als auch das des Verkäufers (also sein eigenes) bei dem Handel mit solchem Tand in großer Gefahr sei.
Ebenso radikal wurde die Malerei abgelehnt, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Dass von bedeutenden Quäkern wie George Fox, James Nayler oder Margaret Fell keine Abbildungen existieren, ist kein Zufall. Das Portraitieren der eigenen Person galt als Verherrlichung der „Kreatur“, als Anmaßung und Eitelkeit. Die älteste authentische Abbildung eines Quäkers ist die des Amsterdamers William Sewel, der für seine fundierte Quäkergeschichte bekannt ist. Er wurde 1705 von Guerard Rademaker (1672-1711) portraitiert. Das Original ging verlustig, doch zwei danach gefertigte Kupferstiche sind erhalten (Abb.1).


Abb.1: Der Quäkerhistoriker Sewel, Kupferstich des Jan Caspar Philipps aus dem Jahre 1733, nach einem verschollenen Gemälde des Künstlers Rademaker. Durch die geschickte Schattenführung hat das Original eine annähernd dreidimensionale Wirkung.





Mit der Malerei wurde auch Farbe, Ornament und Verzierung abgelehnt. Dies bezog sich auf fast alle Lebensbereiche. Schon zu George Fox’ Zeiten muss die Ablehnung farbiger Kleidung bei den Freunden recht verbreitet gewesen sein. Ansonsten wäre Margaret Fells Warnung, die Schönheit der Schöpfung nicht zu missachten, nicht notwendig gewesen. Sie schrieb 1700: „Man sagt, wir sollten nicht verschiedene Farben begehren, Farben, wie es sie auf den schönen Bergen gibt. Wir sollen alle gleich gekleidet sein. Das ist ein blödes, armseliges Evangelium. (...) Jesus Christus sagte, (...) wir sollten die Lilien betrachten, wie sie noch königlicher gewachsen wären als Salomo“ (2) (vgl. Matthäus VI, 28). Die Ansicht Fells konnte sich nicht durchsetzen, in den folgenden Quäkergenerationen wurde gerade das Grau, biblisch durch nichts gerechtfertigt, zum Markenzeichen vieler englischer und amerikanischer Quäker. Die Ablehnung von Farben bezog sich nicht allein auf die Kleidung, sondern zeigte sich bei so unterschiedlichen Gegenständen wie dem Mobiliar, der Anstrichfarbe von Wohn- und Versammlungsbauten oder den Einbänden von Büchern. Schließlich wurde die Farbbezeichnung quäker-grau in England so sprichwörtlich wie hierzulande russisch-grün. Nicht zuletzt wurde auch diesem Blog speziell eine Hintergrundfarbe gegeben, die an diesem Grauton angelehnt ist, was auch dem Wiedererkennungs-Effekt dienen soll.
In den Wohnungen der meisten Quäker fanden sich bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts nur selten Gemälde und noch seltener Porträts. Wenn Gemälde Bestandteil der häuslichen Einrichtung waren, handelte es sich lediglich um ländliche Darstellungen oder Stilleben (3). So lobte es auch Thomas Clarkson in „A Portraiture of Quakerism“. Seine mehrbändige Abhandlung ist die erste Quelle, wenn wir uns über den inneren Aufbau der Quäkergesellschaft im späten 18. Jahrhundert, gemeinhin als die Zeit des Quietismus charakterisiert, kundig machen wollen. Der Autor argumentiert, dass die meisten Quäker lediglich eine geringe, aber vollkommen ausreichende Bildung hätten. Dies sei der Grund für ein allgemeines Desinteresse gegenüber den Künsten im Allgemeinen und den Gemälden im Besonderen. Da ist es kaum verwunderlich, dass es unter den Quäkern zwar bedeutende Kaufleute, Botaniker und Pädagogen gab, dass es jedoch zu keinen großen Quäkerkünstlern kommen konnte (4). Es wäre ein „general rule“, so führt Clarkson weiter aus, keine Portraits von sich oder von seiner Familie zu besitzen. Und mit solchen Hinweisen auf „allgemeine Grundsätze“ gaben sich die meisten seiner Leser und Leserinnen seinerzeit zufrieden. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von diesem allgemeinen Grundsatz Abstand genommen, ausgehend von Anhängern des Elias Hicks innerhalb amerikanischer Quäkerversammlungen. Hier darf man jedoch keine Toleranz oder gar neue Kunstfreudigkeit vermuten: Für Hicks war die Frage der rechten Kleidung, des Theaters oder der Malerei derart äußerlich, dass man ihr gar keine Beachtung schenken sollte. Wer Kunst ablehnt, widmet ihr schon zu viel Aufmerksamkeit! Langfristig aber war mit dieser Einstellung der Einzug der Kunst in den Alltag der Quäker gesichert. Es sollte jedoch ein langer Weg werden, und insbesondere in England waren die Widerstände enorm. Möglicherweise war in Amerika die Öffnung gegenüber der Kunst in eine allgemeine Entwicklung vom einfachen Siedlerleben zu steigendem Wohlstand, vor allem an der Ostküste, eingebettet (5), wohingegen die Kunstfeindschaft in England, die von den Quäkern selbst schnell mit Schlichtheit oder Einfachheit verwechselt wurde, zum Unterscheidungsmerkmal gegenüber einer städtischen Kultur wurde, wie sie in Zentren des Commonwealth wie London, Bristol oder Manchester anzutreffen war.
Im November 1848 berichtet die Zeitschrift „The Friend“ von einem interessanten Vorfall, der sich - was kein Zufall war - in Amerika ereignet haben soll (6): In hohem Alter konnte die als Quäkerin sonst tugendhafte Rachel Bartram nicht der Versuchung widerstehen, der Nachwelt nicht doch ein Portrait von sich zu überlassen. Sie beschloss, dem eitlen Verlangen nachzugeben und sich - mit schlechtem Gewissen - porträtieren zu lassen. Augenblicklich war die Seelenruhe verflogen, und unter inneren Konvulsionen verbrannte sie Rahmen und Leinwand. Nur dadurch habe sie ihren Frieden und ihre Lebensfreude wieder gefunden (7). Doch auch die britischen Quäker begannen schließlich, sich porträtieren zu lassen, was selbst in den angesehensten Quäkerfamilien geschehen konnte. Davon berichtet Elizabeth (Gurney) Fry. Anlässlich einer Sitzung ihres Vaters John Gurney bei dem Maler John Opie beklagte sie sich bitterlich über diesen „Sündenfall“. Elizabeth weigerte sich sogar, das Gemälde zu betrachten - zweifelsohne eine radikale Position, die dem häuslichen Frieden nicht gerade förderlich gewesen sein dürfte. In den späteren Jahren änderte sie jedoch ihre Ansichten und ließ sich von dem Maler Charles Robert Leslie (1794-1859) porträtieren. Vielleicht war diese Entscheidung durch eine frühe Begegnung mit der Kunst in ihren Jugendjahren mit beeinflusst worden. Damals verkehrte der Zeichenlehrer John Crome bei den Gurneys und erteilte Unterricht in Kunsttheorie und Zeichenkunde. Sein Unterricht wurde als so gewinnbringend betrachtet, dass er die Familie sogar auf Reisen begleitete. Neben der ablehnenden Haltung in Sachen Malerei gab es stets eine bejahendere Einstellung der Zeichnung gegenüber, allerdings unter zwei Prämissen: die Zeichnung musste in irgendeiner Form nützlich und sie durfte keinesfalls in der Wahl des Motivs anstößig sein. In der technischen Sachdarstellung sah man beides erfüllt. Früher als in öffentlichen Schulen begannen die Quäkerschulen etwa 1860 mit dem Zeichenunterricht. Dieser wurde innerhalb der Industrialisierung, als sich die Ingenieurskunst auf dem Höhepunkt befand, immer mehr als wichtige Fertigkeit und elementarer Bestandteil der Berufsvorbereitung betrachtet. Doch mehr noch als von der Massenproduktion der Hochindustrialisierung fühlten sich die englischen Quäker von deren Gegenbewegung, der Sozialreform angezogen. Hier gelang es ihnen erstmals, Anschluss an eine zeitgenössische Kunsttheorie zu finden. Besonders die Ideen des Londoner John Ruskin, der die Handwerklichkeit der Ausführung wertschätzte und den Verzicht auf eine überbordende Ornamentierung und das Streben nach einer Wahrhaftigkeit des Gegenstandes vertrat, fanden unter Quäkern wohlwollende Aufnahme. Hier sahen viele einen Weg eröffnet, Schlichtheit und Kunst zu vereinen und aus der Not eine Tugend zu machen. Sein mehrbändiges Werk „Modern Painters“ wurde von vielen Quäkern gelesen und war vermutlich die erste kunsttheoretische Schrift, die den Weg in einige Haushalte der Quäker fand.
Aus ähnlichen praktisch-anwendungsbezogenen Gründen wurde auch die Erfindung und Verbreitung der Photographie begrüßt. Photographie wurde jedoch erst spät als Kunst empfunden, sie hatte zunächst dokumentierenden Charakter. Die als naturhaft empfundene „authentische“ Abbildung der Photographie, die angeblich Imagination oder Wirklichkeitstäuschung nicht zulässt, sondern die „Dinge zeigt, wie sie eben sind“ erlaubte es zunächst einigen Quäkern, einen positiven Standpunkt diesem neuen Medium gegenüber einzunehmen. Dennoch dauerte es seine Zeit, bis die erste Photographie in „The Friend“ erscheinen konnte, zumal die ersten Abbildungen recht kostspielig waren. Zunächst erschienen erste Photographien in einzelnen Quäkermonographien, bis schließlich auch der „The Friend“ sein erstes Bild abdruckte - nicht ohne entschuldigende Erklärung. Am 8. Januar 1892 war es soweit, es erschien ein kurzer Beitrag „Quaker Pictures“ von Wilfried Whitten. Eine Seite zuvor ist ein schwarzweißes Gemälde von Henrietta Mary Ada Ward (1832-1924) zu sehen, auf dem Elizabeth Fry das berüchtigte Gefängnis zu Newgate besuchte (8). Offensichtlich wollte man bewusst mit der großformatigen Abbildung von Fry einen Schnitt ziehen: Seit der Wiedergabe dieses Bildnisses ist „The Friend“ in allen folgenden Ausgaben illustriert (9).


Deutsche Quäker und die Kunst
Wie sah und sieht es nun bei den Mitgliedern der Deutschen Jahresversammlung der Quäker aus? Über die Einstellung zur Kunst innerhalb der ersten Quäkergemeinden des 17. Jahrhunderts in Emden, Danzig, Altona, Krefeld, Kriegsheim und Friedrichstadt ist kaum etwas bekannt. Die Anhänger waren meist verarmte Handwerker, Tagelöhner oder Bauern, so dass es kaum Berührungspunkte mit Kunst gab, zumal nicht für die Generation unmittelbar nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg. Anders war die Situation in der Quäkerkolonie Friedensthal ab 1792. Die dortigen Separatisten versuchten nicht etwa, eine deutsche Form des Quäkertums zu entwerfen, sondern richteten sich strengstens nach den englischen oder amerikanischen Gemeinden. Dabei orientierten sie sich nach den Richtlinien, die sie Quäkertexten (hauptsächlich des 17. Jahrhunderts!) entnahmen und nach dem, was ihnen die Quäkermissionare auf den Besuchsreisen vorlebten und empfahlen. Diese Besucher und Besucherinnen waren jedoch nicht „durchschnittliche“ Quäker, sondern meist Prediger, die sich durch besondere Eifrigkeit und Moralität qualifiziert hatten. Im Ergebnis führte dies dazu, dass in der Theologie und in der Lebensführung die kleine deutsche Gemeinde strenger und abgeschlossener strukturiert war als ihre angloamerikanischen Vorbilder. Die Aufnahme als Mitglied konnte Jahre dauern, für den Gemeindeausschluss reichte ein geringes Vergehen. Hinzu kam, dass man in Deutschland von staatlicher und kirchlicher Seite kritisch beobachtet wurde und die Quäker somit bemüht waren, das Bild einer vorbildlichen Gemeinde abzugeben. Davon war nun auch die Kunst betroffen. Ein einziges Beispiel muss hier genügen: Ludwig Seebohm, der Gründer der Siedlung, betrieb gemeinsam mit Jacob Meyer, einem weiteren Quäker, eine Buchdruckerei. Alle in Friedensthal entstandenen Drucke stammten aus diesem Betrieb, zum großen Teil waren es Übersetzungswerke Seebohms. Dieses Unternehmen konnte besonders von den internationalen Kontakten profitieren, denn allein mit pädagogischen und moralischen Schriften hätte sich im Pyrmonter Umkreis kaum etwas verdienen lassen. Friedensthaler Druckerzeugnisse fanden den Weg über den Atlantik in hauptsächlich amerikanische Haushalte von Germantown, Philadelphia und Baltimore. Aus Gewissensgründen und aus Abneigung gegen Ornament, Mode und „Luxus“ wurden die Bucheinbände jedoch nicht mit den im Biedermeier beliebten Blumenmotiven bedruckt, sondern lediglich leicht marmoriert. Dies war dem Absatz wenig förderlich. Aus finanziellen Erwägungen wurde die Produktion schließlich um 1804 eingestellt, der Restbestand der Bücher wurde zu Missionszwecken unentgeltlich verteilt.
Gänzlich anders war die Situation 1925, als sich die Deutsche Jahresversammlung (DJV) konstituierte. Bereits unter den ersten Mitgliedern befanden sich Romanschriftsteller und Musiker, das Bildungsbürgertum dominierte. Besondere Vorbehalte gegenüber der Kunst scheint es nicht gegeben zu haben, zumindest sind sie nicht überliefert. Ganz im Gegenteil, schon in der deutschen Übersetzung des Werkes „Christliches Wirken in der Gesellschaft der Freunde“ wird Kunst begrüßt als eine Inspirationsquelle des Geistes Gottes. Die zentralen Aussagen lauten: „Der Künstler teilt die schöpferische Macht Gottes“ und „Wir fühlen, daß der schöpferische Künstler unmittelbar inspiriert ist, und daß jedes große Kunstwerk ein Weg ist, auf dem der göttliche Geist sich menschlich offenbart“ (10). Inspiration geschieht unerwartet, durch Wollen und Wünschen wird lediglich die Möglichkeit dazu geschaffen. Die Inspiration bleibt Geschenk und kann nicht erarbeitet werden. Wenn der Mensch geschaffen ist als ein Ebenbild des Schöpfers, dann ist seine schöpferische Fähigkeit Bestandteil seiner göttlichen Abkunft. Wenn das gesamte Leben als Sakrament verstanden werden soll, dann hat auch die künstlerische Ausdrucksform ihre Daseinsberechtigung allein in ihrer Existenz, nicht als Mittel zu anderen Zwecken - so könnte vielleicht eine heutige moderne quäkerische Position gegenüber Kunst in Worte gefasst werden. In den mutigen Aussagen aus dem Jahre 1925, den sich die DJV drei Jahre darauf zu eigen machte, führt die Kunst nicht lediglich zum Göttlichen, sondern die Kunst kommt aus dem Göttlichen.
Besondere Bedeutung wurde dieser Position nicht beigemessen. Die Quäker hatten ihren Frieden mit der Kunst gemacht, zu einer Kenntlichmachung nach Außen fehlte meist der Anlass. Nur ein einziges Mal traten die Quäker in Sachen Kunst an die deutsche Öffentlichkeit, als 1930 George Grosz wegen angeblicher Gotteslästerung (Strafgesetzbuch §166) des Bildes „Maul halten und weiter dienen = Der Christus mit der Gasmaske“ (Abb.2) angeklagt wurde (11). Die Quäker verneinten in ihrem Gutachten die Existenz einer klaren Grenze zwischen künstlerischer und religiöser Intuition und schätzten besonders die aufrührerische und bewegende Bildwirkung bei den Betrachtern, ohne sich auf eine für sie heikle Diskussion um künstlerische Qualität einzulassen (12). Kunst ist ein Mittel, Religion zum Ausdruck zu bringen: „Aus dem Bilde spricht die künstlerische Intuition einer tiefen religiösen Idee. Es ist ein Ecce homo, ein erschütternder Aufruf, Christus aus dem Gefängnis menschlicher Furchtbarkeit und Niedrigkeit zu befreien“ (13).



Abb.2: „Maul halten und weiter dienen“ - eine Abbildung zwischen Karikatur und memento mori. In einer Epoche, die den Soldaten als heroischen Kämpfer für Altar und Vaterland idealisierte, war eine derartige Darstellung eine pazifistische Provokation, die einen Sturm der öffentlichen Entrüstung hervorrief. George Grosz emigrierte 1933 in die USA.


Abschließend sollen einige Äußerungen zur Kunst aus deutschen Quäkerveröffentlichungen die unterschiedliche Bandbreite und Mannigfaltigkeit des Begriffes dokumentieren. Die Statements zur Kunst von Seiten deutscher Quäker sollen bewusst unkommentiert bleiben:
„Die Protestantische Kirche lehrt, daß Gott das Gute ist. Diese Beschränkung führt zu Irrtümern und Fehlern der Weltanschauung. Wir müssen Gott begreifen, soweit wir es als beschränkte sterbliche Wesen überhaupt vermögen, als gut, wahr und schön“ (1937) (14).
„Es ist wahrlich nicht gleichgültig, was da von den Wänden Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr auf uns herabsieht. Als Arzt kommt man in so viele Schlafzimmer. Mein Gott, was hängt da mitunter alles über dem Bett oder gegenüber dem Bett, worauf doch meist, ehe die Ampel erlischt, das traumbereite Auge fällt! Was kommt da hinüber und hinunter auf die versenkte Bühne, den plastischen Seelengrund! Und was nimmt dann vielleicht der letzte Blick des in diesem Bette Sterbende mit hinüber in den anderen Lebensrhythmus, die andere Bewußtseinsphase des Totaliter Aliter, welches wir Jenseits nennen!“ (1947) (15).
„Der getreue naive Realismus galt vielen Quäkern als ästhetische Richtlinie, deren Darstellung sei in der Ursprünglichkeit der Auffassung und in der unmittelbaren Empfindung den ‚Akademikern weit überlegen’ “(1952) (16).
„Wie oft bin ich an den schönsten Dingen vorbeigegangen, ohne sie zu sehen, bis ein anderer mich darauf hinwies“ (1954) (17).
„Die rechte Bedeutung erkennen wir nicht so, daß wir die Kunst als eine unverbindliche Form des Genusses pflegen, wie weithin die bürgerlich ‚gebildete’ Welt es praktizierte und noch praktiziert, sondern so, daß wir sie wieder verstehen als das Ringen, das aus suchenden Menschen gegenüber den Fragen, Nöten, Rätseln und Aufgaben ihrer Zeit aufstieg und hoffende Gestaltung fand“ (1959) (18).
„Leider verbietet der Zeitmangel, dieses wichtige Kapitel gebührend zu behandeln“ (1964) (19).
„Noch das größte Kunstwerk bleibt ein gewaltiger Torso, den wir erblicken, aufnehmend, nachschaffend tief in uns selbst zu vollenden haben“ (1972) (20).
„Alles, was uns über uns hinaus ins Göttliche führt“! (1979) (21).



Anmerkungen:
  • (1) P. Holtom: Kunst und Religion, II. In: Der Quäker, 1978, S. 46-50, hier S. 47-48.
  • (2) Unver. Epistel April 1700; I. Ross: Margaret Fell, London 1949, S. 380.
  • (3) J. Nicholson: Quakers and the Arts, London 1968, S. 31.
  • (4) Nicholson, Quakers, 1968, S. 55. Der Maler und Präsident der Königlichen Akademie der Künste, Benjamin West, war von Herkunft Quäker. Er konnte jedoch nicht Mitglied bleiben, da seine Lebensweise nicht den damaligen Quäkeransichten entsprach; vgl. J. Boorne: Benjamin West, in: Friends’ Quarterly Examiner, II, 1868, S. 204.
  • (5) Die zwei bekanntesten Quäkerkünstler stammen von der Ostküste: der Maler Edward Hicks (1780-1849) und der Dichter John Greenleaf Whittier (1807-1892).
  • (6) In jenen Jahren kann gelegentlich zwischen den Zeilen der englischen Quäkerpublikationen ein „echtes“ englisches Originalquäkertum gegenüber der verwirrenden Uneinigkeit amerikanischer Quäkerversammlungen herausgelesen werden. Insbesondere hatte sich „The Friend“ dem Kampf gegen Bilder verschrieben, mit dem Anspruch, für das gesamte Quäkertum zu sprechen; Argumente gegen Bilder: Friend, 1862, S. 16; 1847, S. 81 f., 128; 1848, S. 78.
  • (7) Nicholson, Quakers, 1968, S. 52.
  • (8) Die Angabe „From the Oil Painting by E. M. Ward“ in „The Friend“ von 1892 ist falsch; das Gemälde stammt nicht von Edward Matthew Ward.
  • (9) Die Monatszeitschrift der Quäker in Deutschland ist seit der Ausgabe vom April 1927 bebilderte, das erste Photo zeigt Valentin Bulgakov mit Leo Tolstoi.
  • (10) Christliches Leben / Christliches Wirken, Bad Pyrmont 1951, S. 226.
  • (11) Auf der Jahresversammlung 1931 rief der Leiter der Quäker, Hans Albrecht, ermutigt durch den Verlauf des Verfahrens, zu stärkerem öffentlichem Engagement der Freunde auf; siehe dazu M. Mills: German Quakers and the Trial of George Grosz, in: Friends Journal, XLIX, 4, 2003, S. 24-28.
  • (12) H. Albrecht: Ein Gutachten, in: Monatshefte der deutschen Freunde, 1931, S. 4-10.
  • (13) Als Meditation, in: Der Quäker, 1975, S. 47.
  • (14) M. Röhn, in: Der Quäker 1937, S. 166.
  • (15) O. Buchinger: Zur Hygiene des inneren Menschen, Bad Pyrmont 1947, S. 8.
  • (16) W. S. in: Der Quäker, 1952, S. 80.
  • (17) W. Harms, in: Der Quäker, 1954, S. 42.
  • (18) E. Fuchs: Lebenshaltung und Lebensverantwortung des Christen im Zeitalter des werdenden Sozialismus, Leipzig 1959, S. 238.
  • (19) W. Rieber, Richard L. Cary-Vorlesung 1964, S. 30.
  • (20) O. Czierski, Richard L. Cary Vorlesung 1972, S. 29.
  • (21) G. Schnetzer: Gegenwart Gottes in der Kunst, in: Der Quäker, 1979, S. 205-207.