20130126

Hans Klassen: Ein Lebensschicksal des 20. Jahrhunderts (Teil 1)


Hans Klassen - Portraitaufnahme aus seiner Jugendzeit
In den letzten Wochen hatte ich eine Begegnung mit meinem „alten Bekannten“ Hans Klassen, da ich Nachkommen in den USA, England und Deutschland gefunden habe, mit denen ich mich inzwischen auch treffen konnte. Einige alte Fragen sind beantwortet, neue entstanden, und noch immer bleibt offen: Was für ein Mensch war Hans Klassen? Dies ist nun nicht so einfach zu beantworten, denn Klassen hatte viele Gesichter. Und obwohl ich mich ca. zehn Jahren mit seinem Lebensweg beschäftigte, kann ich manche Fragen auch heute noch nicht abschließend beantworten: Sind die Vorwürfe gerechtfertigt, die von den Neu-Sonnefelder Siedlern gegen Klassen erhoben wurden und die zu seinem Rückzug aus der Siedlungsgemeinschaft führten? Aus welchen Gründen wurde er bei den Quäkern ausgeschlossen? Hat er tatsächlich 7.000 Mennoniten bei der Auswanderung nach Übersee geholfen?
Die Rekonstruktion seines Lebenslaufes stellt den Wissenschaftler vor nicht unerhebliche Herausforderungen. Man muss nicht allein die deutsche, russische und englische Sprache beherrschen, sondern benötigt auch Kenntnisse über so unterschiedliche Regierungssysteme wie das Zarenreich, die Weimarer Republik, die Sowjetunion, das Dritte Reich, die Bundesrepublik und die DDR. Schließlich ist es auch erforderlich, freikirchliche Gemeinschaften wie Baptisten, Mennoniten und Quäker zu kennen, deren Geschichte im 20. Jahrhundert durch vielerlei Brüche geprägt und keineswegs befriedigend aufgearbeitet ist. Nur ein Beispiel: Über die deutschen Quäker ist nach Heinrich Ottos „Werden und Wesen des Quäkertums“ aus dem Jahre 1972 keine brauchbare Gesamtdarstellung mehr veröffentlicht worden.
An erster Stelle war Klassen Mennonit, und bei verschiedenen Gelegenheiten hat er als sein Glaubensbekenntnis stets „mennonitisch“ angegeben. Leider gab es an den vielen Orten, in denen sich Klassen vor 1945 (Ilmenau, Gräfenhainichen, Neu-Sonnefeld, Heppenheim, Darmstadt, u.v.a) und nach 1945 (Alsbach, Kassel, Peißenberg, Stephanskirchen u.v.a.) aufhielt, keine mennonitischen Ortsgemeinden, so dass eine Mitgliedschaft oder aktive Teilnahme am Gemeindeleben nicht nachgeprüft werden kann. In Berlin und München, wo Klassen allerdings nur kurzfristig lebte, ist seine Präsenz in den örtlichen Mennonitengemeinden nicht nachzuweisen. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass Klassen, der über ein halbes Jahrhundert als religiös Vortragender durch Deutschland reiste, niemals in seinem Leben an einer Quäkerandacht oder an einem Gottesdienst der Mennoniten in Deutschland teilgenommen hat. Mitarbeit am Gemeindeleben war jedenfalls Klassens Sache nicht.

Jugendzeit und Ausbildung

Den meisten Quellen zufolge wurde Klassen am 30. September 1893 in Nowo-Sofijewka (Nowo Sofiewkala, Kreis Dnjepropetrowsk) geboren, also in der heutigen Ukraine. 1944 gab Klassen in einem handschriftlichen Lebensbericht den 13. Oktober 1893 als seinen Geburtstag an. Die Differenz erklärt sich durch die Abweichung des Gregorianischen vom Julianischen Kalender, der in orthodoxen Ländern noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts galt.
Klassens Vater war Johannes Klassen, der 1856 geboren und 1919 in den Wirren der Russischen Revolution ermordet wurde – ein tragisches Erlebnis, das Hans Klassen tief prägte. Mit seiner Ehefrau Katharina Vogt (1860-1912) hatte der Vater einen Bauernhof betrieben. Das Paar gehörte zu den deutschstämmigen Mennoniten, und in diesem Kulturkreis ist Hans Klassen aufgewachsen. Er lernte Deutsch als seine Muttersprache und besuchte die Gottesdienste der Mennoniten. Wie bei vielen Mennoniten des Zarenreichs war seine Ausbildung überdurchschnittlich, er ging von 1900 bis 1907 auf die deutsche Volksschule in Ekaterinowka, anschließend bis 1909 auf die Zentralschule (Mittelschule) in Nikolajewka und von 1909 bis 1913 auf die Oberrealschule in Halbstadt.
Aus Gründen, die wir nicht kennen, reiste er 1913 von Russland nach Deutschland und immatrikulierte sich zum Sommersemester 1914 am Technikum in Ilmenau (Thüringen). Er hatte sich entschlossen, dort Elektrotechnik zu studieren. Hier kam jedoch der Erste Weltkrieg dazwischen, so dass Klassen sein Studium nicht abschließen konnte. Das hinderte ihn jedoch nicht, sich später mitunter als Wissenschaftlich-technischer Rat auszugeben. Da er die russische Sprache perfekt beherrschte, musste Klassen nicht an der Front kämpfen, sondern wurde als Dolmetscher eingesetzt. Da er aber weiterhin die russische Staatsbürgerschaft besaß, wurde er schließlich als „feindlicher Ausländer“ festgenommen und zunächst im Kriegsgefangenlager Altengrabow bei Dörnitz interniert. Etwa 12.000 zivile und militärische Gefangene feindlicher Nationalitäten wurde dort bis zum Ende des Krieges untergebracht. Die letzten Tage seiner Internierung verbrachte Klassen im Kriegsgefangenenlager Schloss Hassenberg (Landkreis Coburg). Seine Lage schien aussichtslos: er saß gefangen, war ohne eigene Familie, hatte keinen Studienabschluss und befand sich in einem fremden Land, dem die schwerste Wirtschaftskrise der Geschichte bevorstand.



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