20120917

Eva Hermann: Gefangen - und doch frei

Von den Ältesten der DJV bekam ich den Hinweis auf den Text "Gefangen - und doch frei" von Eva Hermann - ich bin immer dankbar  für solche Empfehlungen. Ich halte ihn für vielleicht den besten Text von Seiten der deutschen Quäker, der im 20. Jahrhundert niedergeschrieben worden ist. Der Text wurde schon 1984 einmal veröffentlicht. Ich habe also nachgesucht und in meinem Archiv eine Originalfassung gefunden, die leicht von der 1984er Fassung abweicht. Als Historiker ist es mir aber doch wichtig, den Text unverändert zu belassen, nur einige Erklärungen habe ich in Klammern dazugesetzt. Dank der Engländer ist dieser Text auch online zugänglich.

Geschrieben in Andenken an die Quäkerin Kati Lotz, die Eva Hermann zum Niederschreiben dieses Berichts veranlasste:

Ein Rechenschaftsbericht von Eva Hermann.

Es mag paradox erscheinen, wenn ich Euch sage, ich möchte die beiden Jahre meines Lebens im Gefängnis keinesfalls missen. Aber es ist so.

Wenn einem die ganze gesichert scheinende Existenz plötzlich in Fetzen und Scherben um die Ohren fliegt, man zumindest äußerlich von allen Gliedern des Familien- und Freundeskreises abgeschnitten und völlig auf sich selbst gestellt ist in gleichgültig feindlicher Umwelt, wenn einem der Boden unter den Füßen und selbst die Luft zum Atmen genommen wird, wenn alle Sicherungen zerbrechen und alle Stützen versagen – dann steht der Mensch schutzlos und preisgegeben mit furchtbarer Unmittelbarkeit dem Ewigen gegenüber und begreift, dass es wirklich furchtbar ist, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen. Er begreift, dass nun nicht mehr Menschen zu Gott zu Gericht sitzen, sondern dass Gott richtet. Alles ist mit einem Schlag verwandelt: kein gutgemeinter Vorsatz nützt mehr, kein Versäumnis, keine Unterlassung des bisherigen Lebens lässt sich mehr nachholen, keine Lieblosigkeit gutmachen, keine Fehler ausgleichen. Alles scheint vergeblich. Was bleibt, ist ein vernichtendes Schuldkonto. Was die Phantasie mittelalterlicher Künstler am Jüngsten Tage sich vollziehen sah, ereignet sich nun mitten in der Zeitlichkeit, die diesem irdischen Leben. Und die menschliche Existenz ist dadurch nicht nur in Frage gestellt, sondern vom Ewigen her zerbrochen und schlechthin aufgehoben.
Ich habe mir damals lange die Möglichkeit eines Gespräches mit Rudolf Schlosser gewünscht, der mehr als wir anderen von Gottes Gericht und Gnade wusste. Aber es ist wohl nicht von ungefähr, in solcher Zeit aufs Urerlebnis angewiesen zu sein. Es wäre allerdings in den meisten Fällen gut, wenn echte Seelsorge daran geknüpft und wegweisend weiterführen könnte. Es ist ein fruchtbares Feld für die vorhanden, ein tief gepflügter Acker. Die Gestapo wusste wohl, warum sie für ihre Häftlinge Gottesdienst und Seelsorge verbot. Ich glaube, die Kirchen sind sich der hier gegebenen Möglichkeiten kaum bewusst. Es kommt allerdings sehr darauf an, dass der rechte Mann das Amt versieht, sonst gibt er Steine statt Brot.

Wenn die Kirche versagt oder in ihrer Arbeit behindert wird, erfährt man wohl immer etwas vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen. Ich bin dankbar für das Zusammentreffen mit Menschen anderen Glaubens, besonders den Ernsten Bibelforschern in ihrer tapferen Haltung und gläubigen Katholiken. Der Katholik ist sicher formgebundener nicht nur als der Quäker, sondern auch als der evangelische Christ. Und es gibt Zeiten, in denen man stärker als in anderen der Form bedarf. Wenn im eigenen Inneren die Stimmen durcheinander schreien, findet man nicht leicht den Zugang zur Stille und ist unfähig, Gottes Stimme aus der Stille zu hören. Zuweilen erreicht sie uns dann in einem gesprochenen Wort.
Ein junges Kind aus katholischer Fürsorgeerziehung, das in den ersten Wochen die Zelle mit mir teilte, sagte wie zufällig eines Tages das Gebet der Heiligen Theresa:

Nichts soll dich ängstigen,
nichts dich erschrecken,
alles geht vorüber.
Nur Gott bleibt derselbe.
Geduld vermag alles,
und wer Gott hat, der hat alles.
Gott allein genüget.

Als sie sah, wie sehr es mir half, wiederholte sie das Gebet am Ende jedes Tages, so lange wir beisammen waren. Der Katholik weiß, bewusst oder unbewusst, noch etwas von dem, was Otto Buchinger (ein Fastenarzt und Quäker, C. B.) einmal die Magie des Gebetes nannte. Man bilde sich doch nicht ein, dass eine Litanei gedankenloses Geplapper sei, es werden da wahrlich Kräfte entbunden: „Die Worte waren wie ein Strom, der seine Seele mit sich trug“, sagt Sigrid Undset einmal von einem Beter. Ich habe mich auf manchem Hofgang tragen lassen von solchem Strom, indem ich einen Psalm wiederholt habe, immer wieder und wieder. Den 90.: „Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für...“. Den 42. und 43.: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser...“, „Alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich...“. Den 62.: „Meine Seele ist stille zu Gott...“. Den 126.: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden...“.
„Es liegt eine große Kraft im geübten Gebet“ sagte mir einmal ein Pfarrer. Aber er gab keine Anleitung zum Üben. Es wäre gut, wenn wir uns die Bitte der Jünger: „Herr, lehre uns beten!“ ernstlich zu eigen machen wollten. „Ich bete eigentlich immer“ sagte eine Zellennachbarin in Mannheim, und es ging eine Kraft von ihr aus. Es ging Kraft aus von der zarten, kleinen Italienerin, die allabendlich still und kerzengerade lange Zeit in ihrem Bett saß und ihre Gebete sprach. „Jesu Christ, mach mich zum Werkzeug deiner Gnade! Wo Hass ist, lass mich Liebe bringen, wo Zweifel ist, lass mich Glauben bringen, wo Irrtum ist, lass mich Wahrheit bringen, wo Traurigkeit ist, lass mich Freude bringen, wo Beleidigung ist, lass mich Vergebung bringen, wo Verzweiflung ist, lass mich Hoffnung bringen, wo Dunkel ist, lass mich Licht bringen. Gib, dass ich nicht danach trachte, getröstet zu werden, sondern zu trösten, nicht danach, verstanden zu werden, sondern zu verstehen, nicht danach, geliebt zu werden, sondern zu lieben. Lehre mich verstehen, dass man empfängt, indem man gibt, das Seine findet, indem man sich selbst vergisst, Vergebung erlangt, indem man vergibt, und sterbend zum Ewigen Leben aufersteht“. Sie lebte das, und man merkte es ihr an, dass sie inmitten aller sehr aufmerksam und sorgfältig getanen Arbeit gleichzeitig auf einer anderen inneren Ebene lebte, wie Tomas Kelly (ein US-amerikanischer Quäker, C. B.) es in seinem Aufsatz vom Inneren Licht beschreibt, im innersten Heiligtum der Seele.
In Mannheim befand sich das Untersuchungsgefängnis im Schloss. Es wurde fast bei jedem schweren Angriff getroffen. Als ich der Hauptwachmeisterin gegenüber einmal meine Verwunderung darüber äußerte, dass es dabei noch keine Unglücksfälle gegeben hätte, sagte sie gelassen und wie selbstverständlich: „In diesem Haus wird viel gebetet“. Es wird wahrhaftig hinter Gefängnismauern viel mehr gebetet, als ich je geahnt hätte. Erst von daher habe ich begriffen, warum Elizabeth Fry (englische Quäkerin und Sozialreformerin, C. B), Mathilde Wrede in ihrer Arbeit so aufnahmebereite Herzen fanden für die religiöse Botschaft. Und es wird nicht nur um Rettung und Schutz vor Strafe gebetet, „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten und du sollst mich preisen“ – dass es um ein Retten nicht aus der Not, sondern um Retten und Preisen mitten in der Not geht, das lernt so mancher hinter den Mauern. Man hört dort nicht: „Denk an mich!“, man bittet: „Bete für mich!“, und der Angerufenen nimmt es ernst damit.
Fürbitte ist etwas sehr Ernstes und Verantwortungsvolles. Ich habe es wieder und wieder, oft bis ins Körperliche hinein, gespürt, wenn mir ein Gebet der Freunde draußen zu Hilfe gekommen war. Es war wie eine Woge der Kraft, die weitertrug, wenn man am Versagen war. An unserm Verhandlungstage waren die Gebete der anwesenden und abwesenden Freunde („Freunde“ steht hier für Quäker, C. B.) wie eine Mauer, ein Schutzwall um uns. „Bei dem, was auf dem Spiele stand, haben wir uns gewundert, wie ruhig sie alle waren“, sagte mir hinterher ein Gefängnisbeamter. Wir waren es nur durch euere Hilfe. Ich habe nie dafür gedankt, und versuche es auch heute nicht. Denn was ich dazu sagen möchte und müsste, geht weit hinaus über das, was arme Menschenworte fassen können. Aber vergessen kann man das nie, und es bleibt lebenslange Verpflichtung.
Als Carl Heath 1939 auf der Deutschen Jahresversammlung zu uns sprach, berichtete er von einem griechischen Arzt, mit dem er auf dem Balkan zusammen gearbeitet hatte. Er hatte Heimat und Familie verloren und trug all seine Habe in einem Köfferchen bei sich, so wie es inzwischen das Schicksal von Millionen Flüchtlingen geworden ist. Als Carl Heath ihm seine Bewunderung für seine prachtvolle und unermüdliche Arbeit aussprach, lächelte er still und antwortete nur: „Was ist mir denn geblieben als Lieben und Dienen?“. Ich sagte schon, dass uns beides im Prinzip verweigert wurde. Aber es ließ sich nicht aufheben und hindern. In den Gemeinschaftsräumen gab es häufig erschütternde Beispiele von selbstlosem Dienst. Da war Germaine, eine Französin, die einen Kriegsgefangenen zu befreien versucht hatte und durch seine Ungeschicklichkeit verraten wurde. Es dauerte sieben Monate, bis die Gestapo auch nur ihren Namen erfuhr. „Mein Vater hat beim Einmarsch der deutschen Truppen im Elsass alles verloren. Das wenige, was er noch sein Eigen nennt, soll er nicht einsetzen, um mich zu befreien. Ich will nicht, dass meine Eltern erfahren, wo ich mich befinde. Sie können mich Blanche Moritz nennen. Ich heiße nicht so, aber für die Akten genügt es ja“. Mit unermüdlicher Hingabe pflegte sie eine Russin, die nach einer Totgeburt mit schwerer Sepsis wochenlang zwischen Tod und Leben schwebte, und verteidigte sie gegen alle Angriffe der Nationalsozialistin. „Dich pflege ich bestimmt nicht, wenn Du mal krank wirst“, sagte sie dieser ärgerlich nach solchem Kampfe. Drei Tage später legte sich ihre Gegnerin mit schwerem Gelenkrheumatismus, und sie pflegte sie sechs Monate hindurch mit der gleichen Aufopferung. Wenn beim wöchentlichen Durchtransport der Gefangenen aus anderen Anstalten zu wenige Decken zu Verfügung waren und die Durchreisenden in der Nacht froren, konnte man sicher sein, dass am Morgen die Älteste und Hilfloseste von ihnen Germaines schönen selbstgenähten Mantel über sich gebreitet fand. Ihre Zellenkameradinnen verehrten sie wie eine Heilige.


Da war Lisa, die achtzehnjährige Filmschauspielerin, die wegen Spionage 13 Monate in strenger Einzelhaft war und die Todesstrafe erwartete. Sie wurde streng bewacht und durfte sich niemandem nähern. Wenn aber eine der Frauen im Hof ohnmächtig wurde, so war es sicher Lisa, die sie auffing, ehe sie sich weh tun konnte, und wer besonders deprimiert war, konnte sicher sein, von ihr im Vorübergehen ein ermutigendes Wort oder, wenn das nicht möglich war, mindestens einen grüßenden Blick aufzufangen. Als in Hagenau im ersten Winter plötzlich scharfe Kälte einsetzte und alle unter ihren beiden viel zu dünnen Wolldecken vor Kälte zitterten, behauptete Zenta, die Tirolerin, Frau eines hohen SS-Offiziers und Vorkämpferin des Nationalsozialismus in Österreich, sie ersticke vor Hitze, und breitete ihre zweite Decke über mich. Es war unglaublich, wie erfinderisch diese Menschen, die völlig besitzlos waren, doch einander zu Geburtstagen und Festen kleine Freuden zu machen wussten. Sie legten sich dafür allerlei Entbehrungen auf und boten allen Strafandrohungen Trotz.
Wenn Haft eine gewisse Zeit gedauert hat, dann hört sie auf, Strafe zu sein. Man hat sich distanziert vom normalen Leben und findet langsam eine neue Lebensform. Was farblos grau in grau erschien, nimmt allmählich wieder Farbe an, wenn auch mit schwächeren Nuancen und Schattierungen. Diesen Zeitpunkt erreichen die einen schnell, die anderen langsamer. Bei mir dauerte es über ein volles Jahr. Erst dann sollte man die Sinnfrage stellen, denn erst dann ist man fähig, die Antwort zu hören. Erst dann auch wird man fähig, den inneren Gewinn einzuheimsen, der in solcher Zeit beschlossen liegt. Wenn die Weite des Lebens verweigert wird, streben die Wurzeln notwendig in die Tiefe. „Vieler meiner früheren politischen Gefangenen schreiben mir heute, sie sehnten sich zurück nach ihrer stillen Zelle“, sagte mir kürzlich der Geistliche eines Untersuchungsgefängnisses. Man findet unter den langstrafigen Gefangenen, den Mörderinnen, die zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre im Gefängnis verbringen, Menschen von erstaunlich innerem Gleichgewicht. „A piercing pain, a killing sin, and to my dead heart run them in“, sagt Stevenson. Es ist schon so, dass auch die schlimmste Tat ein Werkzeug werden kann in Gottes Hand, einen Menschen zum inneren Leben zu wecken. Es gibt Worte in der Bibel, Verse im Gesangbuch, die ich niemals schätzen konnte. „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib...“ – ich bin oft entsetzt gewesen, wenn das so gedankenlos und gleichmütig gesungen wurde. „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachteten, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil“. Es war wie ein geheimes Wissen, dass ich das noch einmal würde unter Beweis stellen müssen, ob es noch gilt für unsere Zeit wie vor Tausenden von Jahren, und dass ich es nicht können würde. „Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen...“ – aber liebte ich eigentlich Gott? Ich glaube, wir sind heute alle ein wenig geneigt, bei Jesu vornehmsten Gebot das viel lauter zu hören, was doch eigentlich nur wie Anhang und Nachsatz ist – „deinen Nächsten wie dich selbst“. Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte – wer von uns vermöchte das! Und doch habe ich gefunden, dass die Nächstenliebe nicht standhält in den Stürmen des Lebens, wenn sie nicht in der Liebe zu Gott gegründet ist. Hin und wieder begegnet uns einmal ein Mensch im Leben, in dem die Liebe zu Gott wie eine helle Flamme brennt. Vor acht Jahren war Tom Kelly (Thomas Kelly, amerikanischer Quäker und Mystiker, C. B.) bei uns auf der Deutschen Jahresversammlung, ein amerikanischer Freund von ausgeprägter naturwissenschaftlicher Durchbildung, von vollendeter philosophischer Schulung, im westlichen wie im östlichen Denken gleichgut bewandert. Er wurde mir damals zum Anstoß und Ärgernis. Wir ertranken buchstäblich im Meer von Leid und Not, das unsere jüdischen Freunde verschlang, ohne dass wir sie retten konnten. Und Tom Kelly sprach zu uns von Freude. Es schien so billig, aus dem gesicherten Amerika zu kommen und von Freude zu reden. Ich habe ihn abgelehnt, und wusste doch im innersten Herzen, dass ich ihm nicht gerecht wurde, dass er um Leid und Not wusste wie wir, vielleicht viel tiefer noch, und durch beides hindurchgegangen war zu einer Ebene, zu der ich keinen Zugang hatte. Ich hörte ihn einmal ruhig und ernsthaft sagen: „Ich glaube nicht, dass mir in diesem Leben irgend etwas geschehen könnte, das mir Frieden und Freudigkeit rauben würde“. Das war ein sehr anspruchsvolles Wort. Aber es hatte in seinem Munde den Klang der Wahrheit. Tom Kelly starb bald darauf. Ich habe keinerlei persönliche Beziehungen zu ihm gehabt. Und doch wurde er mir im Zuchthaus von einem Tage zum anderen immer stärker gegenwärtig. Ich wusste, dass diese Jahre vergeblich für mich sein würden, wenn es mir nicht gelang, wenigstens einen Schimmer von dem Licht zu erhaschen, das ihm Welt und Leben erleuchtete. Und ich habe mich von ihm an die Hand nehmen und führen lassen. Weihnachten 1944 kam. Besuche und Gottesdienste waren verboten, unsere Schreibfristen waren von sechs Wochen auf vier Monate heraufgesetzt worden, und die spärlichen Briefe gingen meist irgendwo bei Luftangriffen verloren.


Wir waren seit Monaten ohne Nachricht von unseren Angehörigen und Freunden. Die meisten waren ausgebombt, viele besaßen bei uns nicht einmal mehr das, was sie auf dem Leibe trugen, denn das gehörte ja dem Zuchthaus. Unsere Umgebung war unsäglich verkommen, Läuse und Ratten nahmen überhand, der Ofen rauchte statt zu wärmen, die Betten waren mit nasser Wäsche garniert, es fehlte alles, was weihnachtlich stimmt. Und doch schrieb ich damals: „Vielleicht habe ich Advent noch nie so stark erlebt wie in diesem Jahre... Oft liege ich nachts lange wach, und was mich nicht schlafen lässt, ist – Freude...“ Siehe, ich habe dir geboten dass du getrost und freudig seiest“ – das war in Hagenau noch unerfüllbares Gebot und wird immer mehr Geschenk und Gnade. „Das mir das Reich genommen, da Fried’ und Freude lacht, da bist du, mein Heil, gekommen und hast mich froh gemacht“ – Ich habe in meinem Leben nie ein glücklicheres Weihnachtsfest erlebt, vorher und auch später nicht. Von aller weihnachtlichen Betriebsamkeit frei war es Weihnachten geworden in der Gegenwart Gottes, und mein Herz sang: „Mein Herz geht in Sprüngen und kann nicht traurig sein...“. Die Front kam näher. Wir befanden uns in einer kleinen Munitionsfabrik, die so leicht gebaut war, dass sie beim ersten Bombentreffer zusammenfallen musste wie ein Kartenhaus und die schweren Maschinen uns im Luftschutzkeller begraben würden. Sie stand am Ortseingang direkt hinter der Panzersperre. Wir politischen Gefangenen rechneten überhaupt nicht damit, dass man uns das Ende des Dritten Reichs würde erleben lassen, wir glaubten die Vernichtung unentrinnbar vor uns. Und ich lebte mitten in der Freude, die ich an Tom Kelly nicht begriffen hatte. Wenn noch ein Wunsch für dieses Leben in mir war, so war es nicht, Mann, Kind und Eltern wiederzusehen – alle menschlichen Bindungen waren gelöst. Ich wünschte mir nur, noch einmal einem Menschen gegenüberzustehen, mit dem ich eins war in dem, was ewig ist. Aus diesem Wunsch erwuchs meine Freundschaft mit der Italienerin Lydia, die für uns beide unbeschreiblich hilfreich und beglückend wurde. „Wenn wir versinken in den überwältigenden Meeren der Liebe Gottes, geraten wir in eine neue und besondere Beziehung zu einigen unserer Mitmenschen“, sagte Kelly. Die anderen warteten fieberhaft von einem Tage zum anderen auf die Ankunft der alliierten Truppen. Ich hatte zu warten aufgehört. Ich war völlig bereit für alles, was kam, für jeden neuen Tag und seine Aufgabe. Es war ein Leben in der Gegenwart, die Ewigkeit ist, und ich wusste, dass kein Strafende, kein Gnadenerlass, kein Amerikaner mich freier machen konnte, als ich war. Das heißt nicht, dass die äußere Freiheit, als sie endlich wiedergewonnen war, etwas Geringes gewesen wäre. Man wird erstaunlich erlebnisfähig in zwei Jahren „dearth of the pure elements of earth“. In Hagenau hatte mir einmal nach einem Hofgang eine Mitgefangene versonnen gesagt: „Vor einem Jahr lag mir die ganze Schönheit des Walzertales zu Füßen. Aber ich habe heute viel mehr Freude an einer einzigen Rose im Hof als damals an allen Alpenbergen miteinander“. Was es bedeutete, Berge und Felder, Wiesen und Wälder wieder um sich zu haben statt Gitter und Mauern, Blumenduft statt Rauch und Wäschedunst, Vogellaut und Nachtigallenschlag statt Maschinenlärm bei Tag und Nacht – das lässt sich auch nicht in Menschenworten sagen. Der erste Gruß, den ich nach Kriegsende von amerikanischen Freunden bekam, war Tom Kellys „Vermächtnis“. Es ist alles darin, was ich aus eigener Erfahrung weiß, und viel, viel mehr, viel klarer und fasslicher und schöner, als ich es je sagen kann. Ich habe es, seit ich es bekam, nicht mehr aus den Händen gelassen. Es ist mir wie eine Landkarte, die zu immer neuen Entdeckungen reizt in dem Lande, in das ich mich unter seiner Führung gewagt habe, um darin ein paar erste, zögernde Schritte zu tun. Tiefer hineinzugelangen, Heimatrecht darin zu finden, scheint mir die einzige lohnende Erfüllung des Lebens.
Angesichts der harten Wirklichkeit unseres heutigen Alltags, angesichts all des aschgrauen Jammers, der an allen Straßen hockt und vor dem uns hilflos die Arme sinken, gibt es für mich immer wieder nur den einen Trost zu wissen, dass der Zugang da ist zu einer Wirklichkeit, die unendlich viel größer ist, dass das Meer der Finsternis in Wahrheit überflutet wird von dem viel größeren Meer des Lichtes. Die Leiterin der Goslaer englischen Quäker-Einheit sagte einmal: „Das Wesentliche meiner Arbeit ist mir geworden, allenthalben Menschen zu begegnen, die in allen, ich wiederhole: in allen, Lebenslagen triumphierend Sieger geblieben sind über Not und Schwierigkeit“. Von solchem Siege weiß wohl jeder etwas von uns. Und wir wissen auch, dass er nicht errungen wird mit Menschenkraft, sondern ein freies Geschenk ist aus Gottes Gnade.

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