Von den Ältesten der DJV bekam ich den Hinweis auf den Text "Gefangen - und doch frei" von Eva Hermann - ich bin immer dankbar für solche Empfehlungen. Ich halte ihn für vielleicht den besten Text von Seiten der deutschen Quäker, der im 20. Jahrhundert niedergeschrieben worden ist. Der Text wurde schon 1984 einmal veröffentlicht. Ich habe also nachgesucht und in meinem Archiv eine Originalfassung gefunden, die leicht von der 1984er Fassung abweicht. Als Historiker ist es mir aber doch wichtig, den Text unverändert zu belassen, nur einige Erklärungen habe ich in Klammern dazugesetzt. Dank der Engländer ist dieser Text auch online zugänglich.
Geschrieben in Andenken an die
Quäkerin Kati Lotz, die Eva Hermann zum Niederschreiben dieses Berichts
veranlasste:
Ein Rechenschaftsbericht von Eva Hermann.
Es mag paradox erscheinen, wenn ich Euch sage, ich möchte
die beiden Jahre meines Lebens im Gefängnis keinesfalls missen. Aber es ist so.
Wenn einem die ganze gesichert scheinende Existenz plötzlich
in Fetzen und Scherben um die Ohren fliegt, man zumindest äußerlich von allen
Gliedern des Familien- und Freundeskreises abgeschnitten und völlig auf sich
selbst gestellt ist in gleichgültig feindlicher Umwelt, wenn einem der Boden
unter den Füßen und selbst die Luft zum Atmen genommen wird, wenn alle
Sicherungen zerbrechen und alle Stützen versagen – dann steht der Mensch
schutzlos und preisgegeben mit furchtbarer Unmittelbarkeit dem Ewigen gegenüber
und begreift, dass es wirklich furchtbar ist, in die Hand des lebendigen Gottes
zu fallen. Er begreift, dass nun nicht mehr Menschen zu Gott zu Gericht sitzen,
sondern dass Gott richtet. Alles ist mit einem Schlag verwandelt: kein
gutgemeinter Vorsatz nützt mehr, kein Versäumnis, keine Unterlassung des
bisherigen Lebens lässt sich mehr nachholen, keine Lieblosigkeit gutmachen,
keine Fehler ausgleichen. Alles scheint vergeblich. Was bleibt, ist ein vernichtendes
Schuldkonto. Was die Phantasie mittelalterlicher Künstler am Jüngsten Tage sich
vollziehen sah, ereignet sich nun mitten in der Zeitlichkeit, die diesem
irdischen Leben. Und die menschliche Existenz ist dadurch nicht nur in Frage
gestellt, sondern vom Ewigen her zerbrochen und schlechthin aufgehoben.
Ich habe mir damals lange die Möglichkeit eines Gespräches
mit Rudolf Schlosser gewünscht, der mehr als wir anderen von Gottes Gericht und
Gnade wusste. Aber es ist wohl nicht von ungefähr, in solcher Zeit aufs
Urerlebnis angewiesen zu sein. Es wäre allerdings in den meisten Fällen gut,
wenn echte Seelsorge daran geknüpft und wegweisend weiterführen könnte. Es ist
ein fruchtbares Feld für die vorhanden, ein tief gepflügter Acker. Die Gestapo
wusste wohl, warum sie für ihre Häftlinge Gottesdienst und Seelsorge verbot.
Ich glaube, die Kirchen sind sich der hier gegebenen Möglichkeiten kaum
bewusst. Es kommt allerdings sehr darauf an, dass der rechte Mann das Amt
versieht, sonst gibt er Steine statt Brot.
Wenn die Kirche versagt oder in ihrer Arbeit behindert wird,
erfährt man wohl immer etwas vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen. Ich
bin dankbar für das Zusammentreffen mit Menschen anderen Glaubens, besonders den
Ernsten Bibelforschern in ihrer tapferen Haltung und gläubigen Katholiken. Der
Katholik ist sicher formgebundener nicht nur als der Quäker, sondern auch als
der evangelische Christ. Und es gibt Zeiten, in denen man stärker als in
anderen der Form bedarf. Wenn im eigenen Inneren die Stimmen durcheinander
schreien, findet man nicht leicht den Zugang zur Stille und ist unfähig, Gottes
Stimme aus der Stille zu hören. Zuweilen erreicht sie uns dann in einem
gesprochenen Wort.
Ein junges Kind aus katholischer Fürsorgeerziehung, das in
den ersten Wochen die Zelle mit mir teilte, sagte wie zufällig eines Tages das
Gebet der Heiligen Theresa:
Nichts soll dich ängstigen,
nichts dich erschrecken,
alles geht vorüber.
Nur Gott bleibt derselbe.
Geduld vermag alles,
und wer Gott hat, der hat alles.
Gott allein genüget.
Als sie sah, wie sehr es mir half, wiederholte sie das Gebet
am Ende jedes Tages, so lange wir beisammen waren. Der Katholik weiß, bewusst
oder unbewusst, noch etwas von dem, was Otto Buchinger (ein Fastenarzt und
Quäker, C. B.) einmal die Magie des Gebetes nannte. Man bilde sich doch nicht
ein, dass eine Litanei gedankenloses Geplapper sei, es werden da wahrlich
Kräfte entbunden: „Die Worte waren wie ein Strom, der seine Seele mit sich
trug“, sagt Sigrid Undset einmal von einem Beter. Ich habe mich auf manchem
Hofgang tragen lassen von solchem Strom, indem ich einen Psalm wiederholt habe,
immer wieder und wieder. Den 90.: „Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und
für...“. Den 42. und 43.: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser...“, „Alle
deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich...“. Den 62.: „Meine Seele ist
stille zu Gott...“. Den 126.: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden...“.
„Es liegt eine große Kraft im geübten Gebet“ sagte mir
einmal ein Pfarrer. Aber er gab keine Anleitung zum Üben. Es wäre gut, wenn wir
uns die Bitte der Jünger: „Herr, lehre uns beten!“ ernstlich zu eigen machen
wollten. „Ich bete eigentlich immer“ sagte eine Zellennachbarin in Mannheim,
und es ging eine Kraft von ihr aus. Es ging Kraft aus von der zarten, kleinen
Italienerin, die allabendlich still und kerzengerade lange Zeit in ihrem Bett
saß und ihre Gebete sprach. „Jesu Christ, mach mich zum Werkzeug deiner Gnade!
Wo Hass ist, lass mich Liebe bringen, wo Zweifel ist, lass mich Glauben
bringen, wo Irrtum ist, lass mich Wahrheit bringen, wo Traurigkeit ist, lass
mich Freude bringen, wo Beleidigung ist, lass mich Vergebung bringen, wo
Verzweiflung ist, lass mich Hoffnung bringen, wo Dunkel ist, lass mich Licht
bringen. Gib, dass ich nicht danach trachte, getröstet zu werden, sondern zu
trösten, nicht danach, verstanden zu werden, sondern zu verstehen, nicht
danach, geliebt zu werden, sondern zu lieben. Lehre mich verstehen, dass man
empfängt, indem man gibt, das Seine findet, indem man sich selbst vergisst,
Vergebung erlangt, indem man vergibt, und sterbend zum Ewigen Leben
aufersteht“. Sie lebte das, und man merkte es ihr an, dass sie inmitten aller
sehr aufmerksam und sorgfältig getanen Arbeit gleichzeitig auf einer anderen
inneren Ebene lebte, wie Tomas Kelly (ein US-amerikanischer Quäker, C. B.) es
in seinem Aufsatz vom Inneren Licht beschreibt, im innersten Heiligtum der
Seele.
In Mannheim befand sich das Untersuchungsgefängnis im
Schloss. Es wurde fast bei jedem schweren Angriff getroffen. Als ich der
Hauptwachmeisterin gegenüber einmal meine Verwunderung darüber äußerte, dass es
dabei noch keine Unglücksfälle gegeben hätte, sagte sie gelassen und wie
selbstverständlich: „In diesem Haus wird viel gebetet“. Es wird wahrhaftig
hinter Gefängnismauern viel mehr gebetet, als ich je geahnt hätte. Erst von
daher habe ich begriffen, warum Elizabeth Fry (englische Quäkerin und
Sozialreformerin, C. B), Mathilde Wrede in ihrer Arbeit so aufnahmebereite
Herzen fanden für die religiöse Botschaft. Und es wird nicht nur um Rettung und
Schutz vor Strafe gebetet, „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten
und du sollst mich preisen“ – dass es um ein Retten nicht aus der Not, sondern
um Retten und Preisen mitten in der Not geht, das lernt so mancher hinter den
Mauern. Man hört dort nicht: „Denk an mich!“, man bittet: „Bete für mich!“, und
der Angerufenen nimmt es ernst damit.
Fürbitte ist etwas sehr Ernstes und Verantwortungsvolles.
Ich habe es wieder und wieder, oft bis ins Körperliche hinein, gespürt, wenn
mir ein Gebet der Freunde draußen zu Hilfe gekommen war. Es war wie eine Woge
der Kraft, die weitertrug, wenn man am Versagen war. An unserm Verhandlungstage
waren die Gebete der anwesenden und abwesenden Freunde („Freunde“ steht hier
für Quäker, C. B.) wie eine Mauer, ein Schutzwall um uns. „Bei dem, was auf dem
Spiele stand, haben wir uns gewundert, wie ruhig sie alle waren“, sagte mir
hinterher ein Gefängnisbeamter. Wir waren es nur durch euere Hilfe. Ich habe
nie dafür gedankt, und versuche es auch heute nicht. Denn was ich dazu sagen
möchte und müsste, geht weit hinaus über das, was arme Menschenworte fassen
können. Aber vergessen kann man das nie, und es bleibt lebenslange
Verpflichtung.
Als Carl Heath 1939 auf der Deutschen Jahresversammlung zu
uns sprach, berichtete er von einem griechischen Arzt, mit dem er auf dem Balkan
zusammen gearbeitet hatte. Er hatte Heimat und Familie verloren und trug all
seine Habe in einem Köfferchen bei sich, so wie es inzwischen das Schicksal von
Millionen Flüchtlingen geworden ist. Als Carl Heath ihm seine Bewunderung für
seine prachtvolle und unermüdliche Arbeit aussprach, lächelte er still und
antwortete nur: „Was ist mir denn geblieben als Lieben und Dienen?“. Ich sagte
schon, dass uns beides im Prinzip verweigert wurde. Aber es ließ sich nicht
aufheben und hindern. In den Gemeinschaftsräumen gab es häufig erschütternde
Beispiele von selbstlosem Dienst. Da war Germaine, eine Französin, die einen
Kriegsgefangenen zu befreien versucht hatte und durch seine Ungeschicklichkeit
verraten wurde. Es dauerte sieben Monate, bis die Gestapo auch nur ihren Namen
erfuhr. „Mein Vater hat beim Einmarsch der deutschen Truppen im Elsass alles
verloren. Das wenige, was er noch sein Eigen nennt, soll er nicht einsetzen, um
mich zu befreien. Ich will nicht, dass meine Eltern erfahren, wo ich mich
befinde. Sie können mich Blanche Moritz nennen. Ich heiße nicht so, aber für
die Akten genügt es ja“. Mit unermüdlicher Hingabe pflegte sie eine Russin, die
nach einer Totgeburt mit schwerer Sepsis wochenlang zwischen Tod und Leben
schwebte, und verteidigte sie gegen alle Angriffe der Nationalsozialistin. „Dich
pflege ich bestimmt nicht, wenn Du mal krank wirst“, sagte sie dieser ärgerlich
nach solchem Kampfe. Drei Tage später legte sich ihre Gegnerin mit schwerem
Gelenkrheumatismus, und sie pflegte sie sechs Monate hindurch mit der gleichen
Aufopferung. Wenn beim wöchentlichen Durchtransport der Gefangenen aus anderen
Anstalten zu wenige Decken zu Verfügung waren und die Durchreisenden in der
Nacht froren, konnte man sicher sein, dass am Morgen die Älteste und
Hilfloseste von ihnen Germaines schönen selbstgenähten Mantel über sich
gebreitet fand. Ihre Zellenkameradinnen verehrten sie wie eine Heilige.
Da war Lisa, die achtzehnjährige Filmschauspielerin, die
wegen Spionage 13 Monate in strenger Einzelhaft war und die Todesstrafe
erwartete. Sie wurde streng bewacht und durfte sich niemandem nähern. Wenn aber
eine der Frauen im Hof ohnmächtig wurde, so war es sicher Lisa, die sie
auffing, ehe sie sich weh tun konnte, und wer besonders deprimiert war, konnte
sicher sein, von ihr im Vorübergehen ein ermutigendes Wort oder, wenn das nicht
möglich war, mindestens einen grüßenden Blick aufzufangen. Als in Hagenau im
ersten Winter plötzlich scharfe Kälte einsetzte und alle unter ihren beiden
viel zu dünnen Wolldecken vor Kälte zitterten, behauptete Zenta, die Tirolerin,
Frau eines hohen SS-Offiziers und Vorkämpferin des Nationalsozialismus in
Österreich, sie ersticke vor Hitze, und breitete ihre zweite Decke über mich.
Es war unglaublich, wie erfinderisch diese Menschen, die völlig besitzlos
waren, doch einander zu Geburtstagen und Festen kleine Freuden zu machen
wussten. Sie legten sich dafür allerlei Entbehrungen auf und boten allen
Strafandrohungen Trotz.
Wenn Haft eine gewisse Zeit gedauert hat, dann hört sie auf,
Strafe zu sein. Man hat sich distanziert vom normalen Leben und findet langsam
eine neue Lebensform. Was farblos grau in grau erschien, nimmt allmählich
wieder Farbe an, wenn auch mit schwächeren Nuancen und Schattierungen. Diesen
Zeitpunkt erreichen die einen schnell, die anderen langsamer. Bei mir dauerte
es über ein volles Jahr. Erst dann sollte man die Sinnfrage stellen, denn erst
dann ist man fähig, die Antwort zu hören. Erst dann auch wird man fähig, den
inneren Gewinn einzuheimsen, der in solcher Zeit beschlossen liegt. Wenn die
Weite des Lebens verweigert wird, streben die Wurzeln notwendig in die Tiefe. „Vieler
meiner früheren politischen Gefangenen schreiben mir heute, sie sehnten sich zurück
nach ihrer stillen Zelle“, sagte mir kürzlich der Geistliche eines
Untersuchungsgefängnisses. Man findet unter den langstrafigen Gefangenen, den
Mörderinnen, die zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre im Gefängnis verbringen,
Menschen von erstaunlich innerem Gleichgewicht. „A piercing pain, a killing
sin, and to my dead heart run them in“, sagt Stevenson. Es ist schon so, dass
auch die schlimmste Tat ein Werkzeug werden kann in Gottes Hand, einen Menschen
zum inneren Leben zu wecken. Es gibt Worte in der Bibel, Verse im Gesangbuch, die
ich niemals schätzen konnte. „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib...“
– ich bin oft entsetzt gewesen, wenn das so gedankenlos und gleichmütig
gesungen wurde. „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und
Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachteten, so bist du doch, Gott,
allezeit meines Herzens Trost und mein Teil“. Es war wie ein geheimes Wissen,
dass ich das noch einmal würde unter Beweis stellen müssen, ob es noch gilt für
unsere Zeit wie vor Tausenden von Jahren, und dass ich es nicht können würde. „Wir
wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen...“ – aber
liebte ich eigentlich Gott? Ich glaube, wir sind heute alle ein wenig geneigt,
bei Jesu vornehmsten Gebot das viel lauter zu hören, was doch eigentlich nur
wie Anhang und Nachsatz ist – „deinen Nächsten wie dich selbst“. Gott zu lieben
von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte – wer von uns
vermöchte das! Und doch habe ich gefunden, dass die Nächstenliebe nicht
standhält in den Stürmen des Lebens, wenn sie nicht in der Liebe zu Gott gegründet
ist. Hin und wieder begegnet uns einmal ein Mensch im Leben, in dem die Liebe zu
Gott wie eine helle Flamme brennt. Vor acht Jahren war Tom Kelly (Thomas Kelly,
amerikanischer Quäker und Mystiker, C. B.) bei uns auf der Deutschen
Jahresversammlung, ein amerikanischer Freund von ausgeprägter
naturwissenschaftlicher Durchbildung, von vollendeter philosophischer Schulung,
im westlichen wie im östlichen Denken gleichgut bewandert. Er wurde mir damals
zum Anstoß und Ärgernis. Wir ertranken buchstäblich im Meer von Leid und Not,
das unsere jüdischen Freunde verschlang, ohne dass wir sie retten konnten. Und
Tom Kelly sprach zu uns von Freude. Es schien so billig, aus dem gesicherten
Amerika zu kommen und von Freude zu reden. Ich habe ihn abgelehnt, und wusste
doch im innersten Herzen, dass ich ihm nicht gerecht wurde, dass er um Leid und
Not wusste wie wir, vielleicht viel tiefer noch, und durch beides
hindurchgegangen war zu einer Ebene, zu der ich keinen Zugang hatte. Ich hörte
ihn einmal ruhig und ernsthaft sagen: „Ich glaube nicht, dass mir in diesem
Leben irgend etwas geschehen könnte, das mir Frieden und Freudigkeit rauben
würde“. Das war ein sehr anspruchsvolles Wort. Aber es hatte in seinem Munde
den Klang der Wahrheit. Tom Kelly starb bald darauf. Ich habe keinerlei
persönliche Beziehungen zu ihm gehabt. Und doch wurde er mir im Zuchthaus von
einem Tage zum anderen immer stärker gegenwärtig. Ich wusste, dass diese Jahre
vergeblich für mich sein würden, wenn es mir nicht gelang, wenigstens einen
Schimmer von dem Licht zu erhaschen, das ihm Welt und Leben erleuchtete. Und
ich habe mich von ihm an die Hand nehmen und führen lassen. Weihnachten 1944
kam. Besuche und Gottesdienste waren verboten, unsere Schreibfristen waren von
sechs Wochen auf vier Monate heraufgesetzt worden, und die spärlichen Briefe
gingen meist irgendwo bei Luftangriffen verloren.
Wir waren seit Monaten ohne Nachricht von unseren
Angehörigen und Freunden. Die meisten waren ausgebombt, viele besaßen bei uns
nicht einmal mehr das, was sie auf dem Leibe trugen, denn das gehörte ja dem
Zuchthaus. Unsere Umgebung war unsäglich verkommen, Läuse und Ratten nahmen
überhand, der Ofen rauchte statt zu wärmen, die Betten waren mit nasser Wäsche
garniert, es fehlte alles, was weihnachtlich stimmt. Und doch schrieb ich
damals: „Vielleicht habe ich Advent noch nie so stark erlebt wie in diesem
Jahre... Oft liege ich nachts lange wach, und was mich nicht schlafen lässt,
ist – Freude...“ Siehe, ich habe dir geboten dass du getrost und freudig
seiest“ – das war in Hagenau noch unerfüllbares Gebot und wird immer mehr
Geschenk und Gnade. „Das mir das Reich genommen, da Fried’ und Freude lacht, da
bist du, mein Heil, gekommen und hast mich froh gemacht“ – Ich habe in meinem
Leben nie ein glücklicheres Weihnachtsfest erlebt, vorher und auch später nicht.
Von aller weihnachtlichen Betriebsamkeit frei war es Weihnachten geworden in
der Gegenwart Gottes, und mein Herz sang: „Mein Herz geht in Sprüngen und kann
nicht traurig sein...“. Die Front kam näher. Wir befanden uns in einer kleinen
Munitionsfabrik, die so leicht gebaut war, dass sie beim ersten Bombentreffer
zusammenfallen musste wie ein Kartenhaus und die schweren Maschinen uns im
Luftschutzkeller begraben würden. Sie stand am Ortseingang direkt hinter der
Panzersperre. Wir politischen Gefangenen rechneten überhaupt nicht damit, dass
man uns das Ende des Dritten Reichs würde erleben lassen, wir glaubten die
Vernichtung unentrinnbar vor uns. Und ich lebte mitten in der Freude, die ich
an Tom Kelly nicht begriffen hatte. Wenn noch ein Wunsch für dieses Leben in
mir war, so war es nicht, Mann, Kind und Eltern wiederzusehen – alle
menschlichen Bindungen waren gelöst. Ich wünschte mir nur, noch einmal einem
Menschen gegenüberzustehen, mit dem ich eins war in dem, was ewig ist. Aus
diesem Wunsch erwuchs meine Freundschaft mit der Italienerin Lydia, die für uns
beide unbeschreiblich hilfreich und beglückend wurde. „Wenn wir versinken in
den überwältigenden Meeren der Liebe Gottes, geraten wir in eine neue und
besondere Beziehung zu einigen unserer Mitmenschen“, sagte Kelly. Die anderen
warteten fieberhaft von einem Tage zum anderen auf die Ankunft der alliierten
Truppen. Ich hatte zu warten aufgehört. Ich war völlig bereit für alles, was
kam, für jeden neuen Tag und seine Aufgabe. Es war ein Leben in der Gegenwart,
die Ewigkeit ist, und ich wusste, dass kein Strafende, kein Gnadenerlass, kein
Amerikaner mich freier machen konnte, als ich war. Das heißt nicht, dass die
äußere Freiheit, als sie endlich wiedergewonnen war, etwas Geringes gewesen
wäre. Man wird erstaunlich erlebnisfähig in zwei Jahren „dearth of the pure
elements of earth“. In Hagenau hatte mir einmal nach einem Hofgang eine Mitgefangene
versonnen gesagt: „Vor einem Jahr lag mir die ganze Schönheit des Walzertales
zu Füßen. Aber ich habe heute viel mehr Freude an einer einzigen Rose im Hof als
damals an allen Alpenbergen miteinander“. Was es bedeutete, Berge und Felder,
Wiesen und Wälder wieder um sich zu haben statt Gitter und Mauern, Blumenduft
statt Rauch und Wäschedunst, Vogellaut und Nachtigallenschlag statt Maschinenlärm
bei Tag und Nacht – das lässt sich auch nicht in Menschenworten sagen. Der
erste Gruß, den ich nach Kriegsende von amerikanischen Freunden bekam, war Tom
Kellys „Vermächtnis“. Es ist alles darin, was ich aus eigener Erfahrung weiß,
und viel, viel mehr, viel klarer und fasslicher und schöner, als ich es je
sagen kann. Ich habe es, seit ich es bekam, nicht mehr aus den Händen gelassen.
Es ist mir wie eine Landkarte, die zu immer neuen Entdeckungen reizt in dem
Lande, in das ich mich unter seiner Führung gewagt habe, um darin ein paar
erste, zögernde Schritte zu tun. Tiefer hineinzugelangen, Heimatrecht darin zu
finden, scheint mir die einzige lohnende Erfüllung des Lebens.
Angesichts der harten Wirklichkeit unseres heutigen Alltags,
angesichts all des aschgrauen Jammers, der an allen Straßen hockt und vor dem
uns hilflos die Arme sinken, gibt es für mich immer wieder nur den einen Trost
zu wissen, dass der Zugang da ist zu einer Wirklichkeit, die unendlich viel
größer ist, dass das Meer der Finsternis in Wahrheit überflutet wird von dem
viel größeren Meer des Lichtes. Die Leiterin der Goslaer englischen
Quäker-Einheit sagte einmal: „Das Wesentliche meiner Arbeit ist mir geworden,
allenthalben Menschen zu begegnen, die in allen, ich wiederhole: in allen,
Lebenslagen triumphierend Sieger geblieben sind über Not und Schwierigkeit“.
Von solchem Siege weiß wohl jeder etwas von uns. Und wir wissen auch, dass er
nicht errungen wird mit Menschenkraft, sondern ein freies Geschenk ist aus
Gottes Gnade.
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