20130505

Kriegsdienstverweigerung und Kriegsteilnahme von Quäkern im 20. Jahrhundert: Karl-H. Pollatz

Wie bereits angekündigt, fand im April 2013 die jährliche Frühjahrstagung des Vereins für Freikirchenforschung in Bensheim statt. In diesem Zusammenhang tagte am 11. April auch die AG „Geschichte der Freikirchen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg“. Das diesjährige Thema lautete „Untersuchung des Gedenkens an gefallene Soldaten in den Freikirchen“. Wie immer stand das Treffen unter der sachkundigen Leitung von Pastor Reinhard Assmann (Baptistenkirche); spannende und fachkundige Beiträge lieferten u.a. Karl-Heinz Voigt zu den Methodisten und Hartmut Wahl zu den Baptisten- und Brüdergemeinden. Ich hatte mich gerne bereit gefunden, einmal das bewegende Lebensschicksal des Quäkers Karl-Heinz Pollatz (1919-1945) etwas näher darzustellen, wobei auch neu aufgefundene Aufnahmen gezeigt werden konnten. Sein Lebensschicksal fand so viel Interesse, dass ich zusicherte, eine kurze Zusammenfassung seiner Biographie nachzuliefern, da es bislang eine solche noch nicht gibt. Da ich mitten in den Forschungsarbeiten stecke, kann hier selbstverständlich nur ein erster Abriss geliefert werden, an dem zukünftig noch weiter gearbeitet werden muss. Ziel ist ein Aufsatz für die Fachzeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ zum Thema „Kriegsdienstverweigerung und Kriegsteilnahme von Quäkern im 20. Jahrhundert“.
Karl-Heinz Pollatz, um den es hier geht, wurde 1919 in Dresden-Neustadt geboren, als Sohn von Manfred Pollatz (1886–1964) und Lily Pollatz (1883–1946). Er wuchs in Dresden-Klotzsche und im Stadtteil Langebrück auf, zusammen mit seinen drei Geschwistern.

                           
                                        Glückliche Kindheit: Karl-Heinz Pollatz (mit einem Kuchen) © Haverford College Library, PA, QC, PYM Indian Committee, box AA66










In Klotzsche besuchte er die Volksschule, und nach dem Umzug der Familie nach Haarlem 1934 das „Christelijk Lyceum te Haarlem“ (Abt. HBSb). Dort machte er im 1937 das Abitur, mit der Gesamtnote „gut“. In seiner Freizeit war er bei den niederländischen Quäkern aktiv, so vor allem auch als „Schreiber“ (Vorsitzender) der dortigen Jungfreunde. In dieser Funktion besuchte er 1937 ein Quäkertreffen in England und nahm im August 1938 an der Internationalen Jungfreudekonferenz in Otterden (Kent) teil. Er reiste zwei Sommer, 1936 und 1937, auch nach Frankreich, wo er sich von Paris tief beeindruckt sah und ebenfalls Kontakte mit Quäkern pflegte. Andere Ferienzeiten verbrachte er gemeinsam mit den deutschen Quäkern, wo er insbesondere mit den Familien Fuchs (Berlin), Brückner (Leipzig) und Legatis (Kassel), die alle Kinder in etwa seinem Alter hatten, näher befreundet war. Da beide Eltern Quäker waren, besaß auch Karl-Heinz Pollatz damals automatisch die Mitgliedschaft bei den Niederländischen Quäkern und wurde noch 1946 als Mitglied der „Groep Haarlem“ geführt.
Entgegen der bisherigen pädagogisch ausgerichteten Familientradition entschloss Karl-Heinz Pollatz sich zu einem Medizinstudium, da ein anfangs von ihm angestrebtes Studium der Archäologie in Paris nicht zu finanzieren war. Die Schriften Albert Schweitzers sollen dann zu dem Entschluss, Arzt werden zu wollen geführt haben. So wurde er September 1938 an der Amsterdamer Universität für das Fach „geneeskunde“ zugelassen, wo er gemeinsam mit vier deutschen Kommilitonen (zwei aus Berlin, einer aus München und einer aus dem Vogtland) ab Januar 1939 wohnte. Am 14. Juni 1940 wurde er zum ärztlichen Vorexamen angemeldet und belegte noch drei klinische Semester. Die vorlesungsfreie Zeit verbrachte er in der von seinen Eltern gegründeten Schule in Haarlem, wo er den Kindern und Jugendlichen Sport- und Freizeitaktivitäten anbot, u.a. Rudern, Federball und Cricket, welches er in England kennen gelernt hatte.
Nach seinem Einzug zum Wehrdienst (er war weiterhin deutscher Staatsbürger) und fünfzehn monatiger Dienstzeit ab dem 1. November 1941 konnte er als Teil der Studentenkompanie weiter studieren. Er gehörte zunächst zum Infanterie-Ersatz-Bataillon 37, Standort Osnabrück, dann zur 3. Kompanie, Sanitäts-Ersatz-Abteilung 6, Standort Riesenberg (Erzgebirge). An der Universität Münster konnte er sein Studium fortsetzen, 1942/43 wohnte er in der Schulstraße bei dem Möbelspediteur Hermann Möllring, der ihm bei seinem Umzug von Haarlem nach Münster behilflich war. Was die Gründe für diesen späten Wechsel waren – er befand sich bereits im neunten Semester – ist nicht bekannt. In Münster war er ab dem 1. Februar 1943 wieder immatrikuliert und zum 26. Januar 1944 exmatrikuliert. Vermutlich hatte der langsam das deutsche Hinterland erreichende Krieg mit diesen Wechseln zu tun: Die Fliegerangriffe Anfang 1942 und Juni 1943 hatten die Universität derart schwer getroffen, dass es zunächst unklar war, ob ein vernünftiger Lehrbetrieb überhaupt aufrecht erhalten werden konnte.
1944 erfolgte die mündliche Promotionsprüfung bei dem Gerichtsmediziner Heinrich Toebben (1880-1951), den Pollatz schon einige Semester früher gut kennen gelernt hatte. Als er sich 1943 im zehnten Semester befand, wurden drei von sechs besuchten Veranstaltungen von Toebben angeboten. Der heutige Leser vielleicht abschreckende Titel der Promotionsarbeit lautete „Tod durch Elektrizität“. In dieser Arbeit wurden, in sachlich-nüchternem Ton, mehrere tödlich verlaufene Stromunfälle geschildert (die Fälle selbst aber glücklicherweise von Pollatz nicht durchgeführt). Dieses Thema, welches sich also mit dem Beenden des Lebens und keineswegs mit seinem Erhalten beschäftigte, und das auch völlig konträr zum ethischen Denken der Quäker stand, passte gut in das Interessengebiet seines Doktorvaters, der ihm möglicherweise das Thema vorgab. Dieser hatte offensichtlich ein Faible für obskure und bizarre Themen; unter seinen Veröffentlichungen finden sich Titel wie „Über Kriegsbeschädigungen bei Nerven- und Geisteskranken“ (1919) „Über den Inzest“ (1925), „Untersuchungsergebnisse an Totschlägern“ (1932). Blickt man auch nur kurz in diese Schriften wird schnell klar: das Ziel war nicht das Heilen oder Helfen, sondern das Klassifizieren in Krankheitstypen und die forensische Prognostik.
Am 15. Mai 1944 erfolgte die Ernennung von Karl-Heinz Pollatz zum Mediziner durch das Reichsministerium des Inneren unter Heinrich Himmler, nachdem er am 12. Mai gleichen Jahres die ärztliche Prüfung bestanden hatte. Nach seinem Studiumsabschluss wurde er mit der Erkennungsmarke „11249-San.Ers.Abt.6“, also als Reservesanitäter, zur Front abkommandiert. Zur gleichen Zeit war sein Vater in Dachau wegen seiner Rettung jüdischer Kinder inhaftiert. Möglicherweise wurde die Freilassung des Vaters an die Bedingung geknüpft, dass der Sohn in den Krieg zieht. Eine Kriegsdienstverweigerung hätte für den jungen Quäker den sicheren Tod wegen Wehrkraftzersetzung bedeutet, wobei noch nicht einmal sicher erwiesen ist, inwiefern Pollatz das pazifistische Gedankengut der Quäker verinnerlicht hatte. Die Zugehörigkeit zur Wehrmacht lässt sich aber heute genau so wenig leugnen wie seine Einsätze an der Ostfront.
Nicht in Quäkeruniform, sondern in Wehrmachtsuniform: K.-H. Pollatz, um 1944 © UAM

Karl-Heinz Pollatz hat den Krieg nicht überlebt. Er gehörte zur 58. Infanteriedivision, zuletzt zum 1. Bataillon. Dieser Truppenteil rekrutierte sich ab dem 1. Oktober 1942 aus dem Raum Münster. Seine 58. Division war im Mai 1941 nach Ostpreußen verlegt worden. Anfang Oktober 1944 wurde diese Division dann unter Generalleutnant Curt Siewert (1899-1983) beschleunigt in den Raum Newel (Oblast Pskow) verlegt. Hier konnte sich die Division bis Februar 1945 halten und musste sich dann über Kragau ins Samland absetzen, wo sie bis April 1945 zerschlagen wurde. Über Verbindungen zu den deutschen Quäkern versuchte Manfred Pollatz nach dem Krieg viele Jahre verzweifelt, etwas über das Schicksal seines Sohnes in Erfahrung zu bringen. Bei den Recherchen halfen von Berlin aus vor allem Margarethe Lachmund (1896-1985) und Olga Halle (1893-1983). Über Halles mühseliges, hartnäckiges Nachfragen bei der Kriegsgefangenenhilfe wurde ein Oberstleutnant Heinz Howarde ausfindig gemacht, der angab, Karl-Heinz Pollatz nach einem Großangriff der Russen am 14. Januar 1945 noch einmal in der Nacht vom 21. auf den 22. Januar 1945 zwischen Litzmannstadt und Random auf einem Verbandsplatz gesehen zu haben. Diese Angaben haben sich als richtig erwiesen; Karl-Heinz Pollatz verstarb um diesen Zeitpunkt in Grabina nahe bei Brzeziny. Er ist damit, meines Wissensstandes nach, der einzige deutsche Quäker, der als Soldat in Folge von Kampfhandlungen während des Zweiten Weltkriegs verstorben ist.

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