Soziale Experimente
Nach seiner Freilassung heiratete er 1919 in Halle an der
Saale Wally (Waltraud) Rast (geb. 1893). Ein Jahr darauf wurde in Mühlhausen
(Thüringen) ihr Sohn Hanno geboren. Zu dieser Zeit verfolgte Klassen mit Begeisterung ein lebensreformerisches Projekt auf der Breitewitzer Mühle, die
in einer Waldlichtung der Dübener Heide (zwischen Wittenberg und Halle) gelegen
war. Infolge der Wirtschaftskrise nach dem Krieg war dort ein Kinderheim
Bankrott gegangen - es wurde nach einem neuen, geeigneten Betreiber gesucht.
Daraufhin boten Klassen und sein Schwiegervater Konrad Rast an, das Heim zu
erhalten. Für wenige Monate entstand unter Klassen ein lebensreformerisches
Projekt zumeist junger und unverheirateter Leute. Einer von ihnen war übrigens
der bekannte Mennonit Johannes Harder (1903-1987), dessen Biografie
bemerkenswerte Parallelen zu der von Klassen aufweist: Auch er stammte aus
Russland, gehörte den Mennoniten an, bewegte sich in lebensreformerischen
Kreisen und arbeitete als Verleger. Wie Klassen ließ auch Harder sich teilweise
von der Ideologie des Nationalsozialismus vereinnahmen; er war im Range eines
SS-Untersturmführers Lektor unter Horst Hoffmeyer an der Volksdeutschen
Mittelstelle (Vomi) in Odessa. Zuvor (im oder kurz nach Dezember 1941) wurde
ihm später in Berlin-Charlottenburg eine Arbeitsstelle im „Verein für das
Deutschtum im Ausland“ vermittelt – von niemand anderem als von Hans
Klassen.
Harder bezeichnet die Teilnehmer auf der Breitewitzer
Mühle als Baptisten, die aus ihren Gemeinden wegen „ketzerischer Ideen“
ausgeschlossen worden seien. Dieser Einschätzung, die positiv gemeint war, ist durchaus
Glauben zu schenken, denn dem Mennoniten Harder waren die konfessionellen
Unterschiede zu den Baptisten zweifellos bekannt. Die Gemeinschaft lebte von
einkehrenden Urlaubern, von dem wiedereröffneten Kinderheim und dem Herstellen
von Korbwaren, die immerhin bis nach Hamburg verkauft wurden. Klassen
engagierte sich jedoch nicht besonders lange in diesem Sozialexperiment, da er schon
längst in Franken neue Pläne verfolgte. Bei seiner Festsetzung auf Schloss
Hassenberg bei Coburg hatte er Kontakt mit religiös gesinnten Personen aus der
Umgebung aufgenommen. Es handelte sich wieder um junge Menschen aus
freikirchlichen Kreisen, überwiegend um Mennoniten, aber auch um Baptisten. Die
jungen Menschen standen vor einer unsicheren Zukunft, der verlorene Krieg und
die wirtschaftliche Not führten sie zusammen und sie fanden in Klassen ihren
Mentor und Ideengeber. Klassen hatte ein ganz besonderes Charisma, das vor
allem unselbstständige und verunsicherte Personen anzog und an ihn band.
Mit rund einem Dutzend Männern und Frauen gründete Klassen
nun die Lebensgemeinschaft Neu-Sonnefeld bei Coburg. Im Gegensatz zu den
politischen, völkischen, sozialistischen oder anarchistischen
Siedlungsversuchen dieser Zeit gehört die Kommune Neu-Sonnefeld zu den
religiösen Lebensgemeinschaften. Die Gemeinschaft war an lebensreformerischen
Grundsätzen wie Vegetarismus, Pazifismus und Gütergemeinschaft orientiert. Wie
in der Breitewitzer Mühle wurden auch in Neu-Sonnefeld Kinder aus Großstädten
in einem Heim aufgenommen und erzogen. Das wurde bald die Haupteinnahmequelle
dieser Unternehmung. Auf dem Giebel des Kinderheims wurde von Hans Fiedler die
Schrift „75 vor 2000“ angebracht, um anzudeuten, dass man sich 75 Jahre vor dem
Weltuntergang befände, der von den Siedlern für das Jahr 2000 erwartet wurde.
Das Hauptgebäude der Siedler steht noch heute
Auch Quäker hatten sich hier
eingefunden, wie überhaupt Neu-Sonnefeld eher vom Quäkertum als vom
Menonitentum geprägt war. Es gab jetzt schweigende Andachten (zwei
Mal wöchentlich!), einen „Schreiber“ (selbstverständlich Hans Klassen) und eine
ausgeprägte pazifistische Grundhaltung der Gruppe. 1926 traten dann Hans und
Wally Klassen der „Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker)“ bei. Am
Gründungsprozess dieser Gesellschaft ein Jahr zuvor hatte Hans Klassen
persönlich teilgenommen. Während Klassen unter den deutschen Quäkern heute zu
Recht oder zu Unrecht völlig vergessen ist, war er einst ihr nicht unwichtiger
Mitgründer gewesen, der auch inhaltlich immer wieder, etwa in
Zeitschriftenbeiträgen, Impulse gab. 1925 führte die Deutsche
Jahresversammlung, die Dachorganisation der deutschen Quäker, ihre erste
Kinderfreizeit und 1926 ihr erstes Jahrestreffen in Neu-Sonnefeld durch. Klassen
war zu diesem Zeitpunkt eine Führerfigur des deutschen Quäkertums in
Süddeutschland, sein Einfluss war maßgeblich, auf seine Stimme wurde gehört.
Dann, zu Pfingsten 1927, fand
ein weiteres großes Ereignis in der Kommune statt: Es tagte der Deutsche
Versöhnungsbund. Redner waren bekannte Persönlichkeiten der Lebensreform, wie
Eberhard Arnold (1883-1935) oder Waldus Nestler (1887-1954). Viele Quäker, die
im Versöhnungsbund aktiv waren, nutzten diese Gelegenheit, um erneut nach
Neu-Sonnefeld zu reisen.
Klassen leitete von Neu-Sonnefeld aus das regionale süddeutsche Zentrum des
Deutschen Versöhnungsbundes, dessen engagiertes Mitglied er war. Nicht zuletzt
wegen Klassen unterhielt der Versöhnungsbund in dem kleinen Sonnefeld sogar
eine eigene Geschäftsstelle. Arnold hatte übrigens schon vorher mit Klassen in Kontakt gestanden: Er besuchte ihn Ende 1921, nachdem er gerade die
Neuwerkbewegung ins Leben gerufen hatte. Über mehrere Tage sprach er mit
Klassen intensiv über mögliche Verbindungen zwischen beiden Bewegungen. Die
beiden Persönlichkeiten konnten jedoch keinen Konsens finden, Neuwerk-Bewegung
und Neu-Sonnefeld gingen hinfort getrennte Wege.
"Der Sonn' entgegen" - Lebensreform-Kunst von Frau Klassen.
1 Kommentar:
Ich stamme aus Gräfenhainichen, kenne die Breitewitzer Mühle im Jösigker Forst, als dort noch Häuserreste zu erkennen waren. Nach Erzählungen der Großeltern und der Mutter nannte man den wüsten Ort die "USA", aber als zusammengezogene Buchstaben,also ein Wort "Usa", weil sich dort Auswanderungswillige auf das neue Leben in Amerika vorbereiten wollten.
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