Hans Klassen - Portraitaufnahme aus seiner Jugendzeit
In den letzten Wochen hatte ich eine
Begegnung mit meinem „alten Bekannten“ Hans Klassen, da ich Nachkommen in den USA, England und Deutschland gefunden habe, mit denen ich
mich inzwischen auch treffen konnte. Einige alte Fragen sind beantwortet, neue
entstanden, und noch immer bleibt offen: Was für ein Mensch war Hans
Klassen? Dies ist nun nicht so einfach zu beantworten, denn Klassen hatte viele
Gesichter. Und obwohl ich mich ca. zehn Jahren mit seinem Lebensweg
beschäftigte, kann ich manche Fragen auch heute noch nicht abschließend
beantworten: Sind die Vorwürfe gerechtfertigt, die von den Neu-Sonnefelder
Siedlern gegen Klassen erhoben wurden und die zu seinem Rückzug aus der Siedlungsgemeinschaft führten? Aus
welchen Gründen wurde er bei den Quäkern ausgeschlossen? Hat er tatsächlich 7.000 Mennoniten
bei der Auswanderung nach Übersee geholfen?
Die Rekonstruktion seines Lebenslaufes stellt den Wissenschaftler vor nicht unerhebliche Herausforderungen. Man muss nicht allein die deutsche, russische und englische Sprache beherrschen, sondern benötigt auch Kenntnisse über so unterschiedliche Regierungssysteme wie das Zarenreich, die Weimarer Republik, die Sowjetunion, das Dritte Reich, die Bundesrepublik und die DDR. Schließlich ist es auch erforderlich, freikirchliche Gemeinschaften wie Baptisten, Mennoniten und Quäker zu kennen, deren Geschichte im 20. Jahrhundert durch vielerlei Brüche geprägt und keineswegs befriedigend aufgearbeitet ist. Nur ein Beispiel: Über die deutschen Quäker ist nach Heinrich Ottos „Werden und Wesen des Quäkertums“ aus dem Jahre 1972 keine brauchbare Gesamtdarstellung mehr veröffentlicht worden.
An erster Stelle war Klassen Mennonit, und bei
verschiedenen Gelegenheiten hat er als sein Glaubensbekenntnis stets
„mennonitisch“ angegeben. Leider gab es an den vielen Orten, in denen sich
Klassen vor 1945 (Ilmenau, Gräfenhainichen, Neu-Sonnefeld, Heppenheim,
Darmstadt, u.v.a) und nach 1945 (Alsbach, Kassel, Peißenberg, Stephanskirchen
u.v.a.) aufhielt, keine mennonitischen Ortsgemeinden, so dass eine
Mitgliedschaft oder aktive Teilnahme am Gemeindeleben nicht nachgeprüft werden
kann. In Berlin und München, wo Klassen allerdings nur kurzfristig lebte, ist
seine Präsenz in den örtlichen Mennonitengemeinden nicht nachzuweisen. Es liegt
durchaus im Bereich des Möglichen, dass Klassen, der über ein halbes
Jahrhundert als religiös Vortragender durch Deutschland reiste, niemals in
seinem Leben an einer Quäkerandacht oder an einem Gottesdienst der Mennoniten in Deutschland teilgenommen hat. Mitarbeit am Gemeindeleben war jedenfalls Klassens Sache
nicht.
Jugendzeit und Ausbildung
Den meisten Quellen zufolge wurde Klassen am 30. September
1893 in Nowo-Sofijewka (Nowo Sofiewkala, Kreis Dnjepropetrowsk) geboren, also
in der heutigen Ukraine. 1944 gab Klassen in einem handschriftlichen
Lebensbericht den 13. Oktober 1893 als seinen Geburtstag an. Die Differenz
erklärt sich durch die Abweichung des Gregorianischen vom Julianischen
Kalender, der in orthodoxen Ländern noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts
galt.
Klassens Vater war Johannes Klassen, der 1856 geboren und
1919 in den Wirren der Russischen Revolution ermordet wurde – ein tragisches
Erlebnis, das Hans Klassen tief prägte. Mit seiner Ehefrau Katharina Vogt (1860-1912)
hatte der Vater einen Bauernhof betrieben. Das Paar gehörte zu den
deutschstämmigen Mennoniten, und in diesem Kulturkreis ist Hans Klassen
aufgewachsen. Er lernte Deutsch als seine Muttersprache und besuchte die
Gottesdienste der Mennoniten. Wie bei vielen Mennoniten des Zarenreichs war
seine Ausbildung überdurchschnittlich, er ging von 1900 bis 1907 auf die
deutsche Volksschule in Ekaterinowka, anschließend bis 1909 auf die
Zentralschule (Mittelschule) in Nikolajewka und von 1909 bis 1913 auf die
Oberrealschule in Halbstadt.
Aus Gründen, die wir nicht kennen, reiste er 1913 von
Russland nach Deutschland und immatrikulierte sich zum Sommersemester 1914 am
Technikum in Ilmenau (Thüringen). Er hatte sich entschlossen, dort
Elektrotechnik zu studieren. Hier kam jedoch der Erste Weltkrieg
dazwischen, so dass Klassen sein Studium nicht abschließen konnte. Das hinderte
ihn jedoch nicht, sich später mitunter als Wissenschaftlich-technischer Rat
auszugeben. Da er die russische Sprache perfekt beherrschte, musste Klassen
nicht an der Front kämpfen, sondern wurde als Dolmetscher eingesetzt. Da er aber
weiterhin die russische Staatsbürgerschaft besaß, wurde er schließlich als
„feindlicher Ausländer“ festgenommen und zunächst im Kriegsgefangenlager Altengrabow
bei Dörnitz interniert. Etwa 12.000 zivile und militärische Gefangene
feindlicher Nationalitäten wurde dort bis zum Ende des Krieges untergebracht.
Die letzten Tage seiner Internierung verbrachte Klassen im
Kriegsgefangenenlager Schloss Hassenberg (Landkreis Coburg). Seine Lage schien
aussichtslos: er saß gefangen, war ohne eigene Familie, hatte keinen
Studienabschluss und befand sich in einem fremden Land, dem die schwerste
Wirtschaftskrise der Geschichte bevorstand.
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